Der ideelle Gesamtrechte

Präsidentschaftswahlen Quelle alternative! Der Drachentöter, der gegen Le Pen antreten wird, heißt wohl Fillon. Wer ist dieser Politiker? Was erwartet die geplagte Republik?

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Francois Fillon
Francois Fillon

Foto: PHILIPPE LOPEZ/AFP/Getty Images

Ein ganzes Politikerleben stand er im Schatten von Anderen. Und nun soll ausgerechnet dieser „Mann ohne Eigenschaften“ die Republik vor einer Präsidentin Marine Le Pen bewahren. Jetzt hat der blasse François Fillon auch die Stichwahl der Primaires gewonnen, gegen das liberale Urgestein Juppé, und zwar mit großem Vorsprung. Vorher schon hatte er keinen Geringeren als den ehemaligen „Omnipräs(id)enten“ Sarkozy ausgeschaltet.

Nach seinem ersten Sieg trat Fillon bescheiden vor seine Anhänger und begann seine kurze Rede mit seinem Lieblingsbild: 1969, bei den 24 Stunden von Le Mans, startete Jacky Icks als letzter und kam als erster an. So sieht er sich, langsam startend, dann aber auf der Überholspur. Der leidenschaftliche Autofahrer stellt sich als Mann der beschleunigten Moderne dar, seine Liebe zum Bergsteigen zeigt aber auch den geerdeten Traditionalisten, der eine extreme körperliche Anstrengung auf sich nimmt. um das Ziel zu erreichen. In die politische Sprache übersetzt: Fillon ist zugleich (ultra-)liberal und erzkonservativ, und er vermittelt dies glaubhaft. Nicht umsonst hat der mittlerweile Zweiundsechzigjährige im Laufe seines Lebens ein enormes politisches Kapital angehäuft.

Fillon ist fest in seiner Heimat, dem Département Sarthe (72) verankert. In gewisser Weise verkörpert er mit seinem hyperseriösen Habitus des Kleinstadt-Notars den fast ausgestorbenen konservativen Notablen-Politiker der Dritten Republik. Die Mutter des 1954 Geborenen war Lehrerin, der Vater... Notar. Der junge François besucht private Schulen, deren Mediokrität ihn langweilt, und engagiert sich bei den so erzkatholischen wie autoritären Scouts. Dort lernt man noch heute Leadership. Sein erstes politisches Idol ist das seiner Eltern: de Gaulle. Ein Bild im des Generals hängt im Zimmer des Heranwachsenden – die meisten seiner Alterskohorte haben in diesen Jahren 1967/68 wahrhaft andere Helden. Fillon studiert Jura in der Provinzhauptstadt Le Mans und holt anschließend pflichtschuldig seinen Militärdienst nach. 1979 heiratet er die waliser Rechtsanwältin Penelope Clarke, die ihm 5 erfolgreiche Kinder schenkt. Zwei seiner Söhne sind heute Rechtsanwälte, ebenso seine Tochter, die „immer an der Seite ihres Vaters steht“, wie „Gala“ bemerken muss. Der dritte Sohn arbeitet in einer Privatbank, und der Jüngste geht noch zur Schule. Eine makellose Familie in einem makellosen Umfeld.

Der Mann im Halbschatten

Die Fülle der politischen Funktionen, die Fillon im Laufe seiner Karriere akkumuliert hat, ist beeindruckend. Der Abgeordnete des Départements Sarthe und spätere Minister, der intrigensichere Gaullist und Intimfeind Chiracs, Jean Le Theule, wird ihm zum Mentor. Fillon lernt das Spiel im politischen Feld „von der Pike“ auf. Le Theule stirbt 1980, nach einer Herzattacke, buchstäblich in den Armen Fillons, der - quasi mittels politischer Transsubstantiation - sein politischer Nachfolger wird, auch als Bürgermeister der Kleinstadt Sablé-sur-Sarthe. Als Abgeordneter und Verteidigungsexperte fällt Fillon dem einflussreichen Gaullisten Philippe Séguin auf. Peu à peu erklimmt er politische Höhen, ohne - anders als Sarkozy - allzu hastig das Gipfelkreuz anzustreben. Ob als Hochschulminister (1993), Regionalpräsident oderTechnologieminister (1995), immer präsentiert Fillon sich als konsequenter liberaler Renovator. Unter anderem, indem er France-Télécom privatisiert. Die sozialen Folgen dieser Reformen müssen Fillons Chefs Raffarin oder Juppé verantworten, nicht der bescheidene Minister.

Fillons Mentor Séguin wird 1997 Präsident der Rechtspartei RPR, Sarkozy deren Generalsekretär. Im folgenden Jahr nähert sich Fillon Chirac an und beteiligt sich an der Formulierung dessen Wahlprogramms. 2002 – Chirac wird erneut Präsident, weil sein Gegner Le Pen heißt – wird er Arbeitsminister und begibt sich an die Reform, besser, die Aufhebung der 35-Stunde-Woche. Große Demonstrationen sind die Folge. 2004 versucht er sich an der Reform des Schulwesens – wieder gehen Hunderttausende auf die Straßen. Chiracs Stern, der nie besonders geleuchtet hat, sinkt. Fillon verbündet sich mit dem neuen Star der Rechten, Nicolas Sarkozy, dessen Premier Ministre er 2007 wird. Ein schwieriges Amt, der Präsident Sarkozy quirlt überall mit. Die Presse fragt sich: Wer regiert? Heute allerdings profitiert Fillon von seiner damaligen Existenz im Schatten eines scheinbar Größeren, so dass er „zugeben“ kann: Wir sind nicht weit genug gegangen, um das Land zu verändern.

Das will er mit seiner Präsidentschaft ändern. Was er bisher in langsamer Besonnenheit nicht geschafft hat, soll nun per Schocktherapie durchgesetzt werden - auf der Überholspur. Frankreich ersticke an Normen, Zwängen, Regelungen, Steuern. Sein nicht ganz so origineller Leitbegriff ist „die Freiheit“. Zu „befreien“ seien die Wirtschaft und die Arbeitsverfassung. Die hinderliche 35 Stunden-Regelung (die in Wirklichkeit schon lange ausgehöhlt ist) müsse durch betriebliche Vereinbarungen (die bis zu 48 Stunden gehen können!) ersetzt werden. Fillon will sage und schreibe 500.000 öffentliche Arbeitsstellen abschaffen. Dem dient unter anderem der späterer Renteneintritt mit 65 Jahren (anfangs hat er noch 67 Jahre gefordert) . Die Steuern und Sozialbeiträge der Unternehmer sollen drastisch gesenkt werden. Ersatz schafft – wie so oft un d bequem – eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um 2 Punkte. Die AKWs sollen ausgebaut werden, schließlich gelte es, der Klimakatastrophe zu begegnen. Das Gesundheitssystem soll „entstaatlicht“, und die Bildungseinrichtungen sollen „autonomer“ werden. Natürlich wird für die Schulen das traditionelle Nationalnarrativ verbindlich. Interessant ist Fillons außenpolitische Position: in gaullistischer Tradition propagiert er mehr Eigenständigkeit und eine Annäherung an Russland. Die Wähler wissen also, was sie erwartet: eine konsequente Fortsetzung neoliberaler Politik im Interesse der Oberklassen mit entsprechend stärkerer Belastung der schon gerupften Unter- und Mittelschichten, denen dafür der Stolz auf die Nation und deren Tradition geboten wird.

Dies aber droht auch bei fast allen anderen Prätendenten. Die programmatischen Unterschiede sind eher … verbal. Für Macron zum Beispiel „erstickt“ Frankreich nicht, sondern es ist „blockiert“. Er spricht häufiger von „Fortschritt“ als Fillon, der „Dynamik“ vorzieht. Blablabla bleibt es allemal. Warum gerade Fillon die Rechte mobilisiert (ohne dass es die Demoskopen merkten) erklärt der linke Kandidat Jean-Luc Mélenchon, der Kandidat links von der Linken, so: Zu glauben, dass die Rechte in Frankreich aus finanzbesoffenen Yuppies besteht, heißt sein Land schlecht zu kennen. Hier sind die Finanzrendite und die Kirchengemeinde die beiden Referenzhorizonte für die Träger der Blazers mit den silbernen Knöpfen.

Dies trifft auf Fillon in besonderem Maße zu. Auf einen, der das Provinzleben publikumswirksam zelebriert, der die Sonntage à la campagne im Kreise der heilen Familie genießt, der keinen Kirchgang versäumt, der die Stierkämpfe als immaterielles Kulturerbe verteidigt und schnelle Autos liebt, wie die Landadligen im 19. Jahrhundert ihre schnellen Pferde. Fillon entspricht dem liberalen Konservativismus jener Fraktionen der herrschenden Klasse, deren Reproduktion sich problemlos, wie von selbst vollzieht (Pierrre Bourdieu). So richtig die Formulierung Musils „Ein Mann ohne Eigenschaften besteht aus Eigenschaften ohne Mann“ sein mag, Fillon schafft es, sich als Mensch, d.h. als ehrlicher Mann zu inszenieren. So erklärte dieser leidenschaftliche Rennfahrer und Fotograph (neuerdings auch Drohnenliebhaber) vor den ersten Primaires auf M6: Ich kann absolut nicht verstehen, wie Leute von morgens bis abends nur an die Politik denken können. Das sagt jemand, dessen ganzes Berufsleben im Gefolge eminenter Politiker stattfand.

Die Alternative: extrem rechts oder rechtsextrem

Natürlich sind die Primaires der Republikaner und der Sozialisten wichtig (auch für die Finanzabteilungen der Medien), aber die Entscheidung fällt erst im kommenden Frühjahr. Es ist auffallend, wie zurückhaltend Marine Le Pen gegenwärtig ist. Sie kann sich sicher sein, in den zweiten Wahlgang zu gelangen. Aber wer wird ihr Gegner? Fillon ist zweifellos im Aufwind, er würde wohl mehr als 20 Prozentpunkte erreichen. Die Sozialisten Hollande oder Valls, beide in der unbequemen Sandwich-Position zwischen Mélenchon (dem 15 Punkte zuzutrauen sind, aber nicht viel mehr) und dem kommenden Stern Macron hätten kaum eine Chance. Eine glaubhafte Alternative kann der Parti socialiste zur Zeit nicht bieten. Das gilt europaweit, ist aber in Frankreich besonders tragisch. Der Zentrist Macron seinerseits würde nicht nur Hollande (oder Valls) Stimmen abnehmen, sondern vor allem jüngere (stadt)bürgerliche Wähler von Fillon abziehen. Aber seine Zeit scheint noch nicht gekommen.

Die finale Konfrontation zwischen Fillon und Marine Le Pen ist also wahrscheinlich. Und es ist auch zu vermuten, dass der alte üble Mechanismus wirken wird: die Wahl des kleineren Übels. Nach den letzten Umfragen im September läge Fillon sogar ziemlich weit vorn. Allein, vielleicht täte man aus Erfahrung gut daran, das Gegenteil der Prognosen anzunehmen. Der Katholizismus Fillons wird von Le Pens Nichte Marion Maréchal-Le-Pen ähnlich vertreten. Das lockt ein bestimmtes Elektorat. Zudem stellen Fillons ökonomische Ideen nicht nur für das „periphere Frankreich“ (Guilluy) eine Zumutung dar. Ist denn wirklich jeder Lehrer und ist wirklich jede Krankenhausärztin wieder einmal bereit, die eigenen sozialen Interessen zu verraten, um einen autoritären Nationalismus zu vermeiden? Die Hälfte der Polizisten hat Le Pen schon gewonnen. Und ist Marine nicht doch ganz anders als ihr Vater? Hat sie die Partei nicht gründlich "ent-diabolisiert"? Die Historiker und Politologen verneinen dies. Und sie haben recht. Aber die Wahrnehmung der Wähler ist (zum Teil) eine andere. Der konservative Neoliberale Fillon steht für die (Erfolg-)Reichen und hat die Unterstüzung der Medien. Marine Le Pen selbst gibt sich als Anwältin der Plebeier, die von der bürgerlichen Medienmeute verfolgt wird. Selbst die „neo-reaktionäre“ Zeitschrift „Causeur“ sieht in einem Kampf Fillon-Le Pen eine Rückkehr des Klassenkampfes. Zeit, wieder den "Achzehnten Brumaire" zu lesen.

Ver-rückte Verhältnisse.

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