Die EU-Kommissionspräsidentin hat jüngst bei ihrer State-of-the-Union-Rede vor dem EU-Parlament den „Ruf der Geschichte“ vernommen und dies der Welt verkündet. Die aber lässt die EU-Kommissionspräsidentin nicht von der Geschichte rufen, sondern in der Gegenwart stranden. Und zwar auf der Insel Lampedusa, wo die EU-Migrationspolitik in Scherben liegt nach all den Deals mit der Türkei, Libyen und Tunesien. Von der Leyen könnte fegen statt reden. Will sie aber nicht und präsentiert einen Zehn-Punkte-Plan, der Ohnmacht eingesteht. Er enthält, was seit Jahren gilt und im Kern auf durch FRONTEX abgeriegelte EU-Außengrenzen hinausläuft, weder human noch wirksam ist. Eine durchsetzbare Übereinkunft zur EU-internen Verteilung von Asylsuchenden lässt hingegen weiter auf sich warten.
Wie vertragen sich diese Defizite mit von der Leyens State-of-the-Union-Rede? Sie hat darin am 13. September die EU zum geopolitischen Akteur erklärt, der Russland Paroli bietet und – ziemlich irritierend – eine Erweiterung von jetzt 27 auf „mindestens 30 Mitglieder“ angekündigt. Wer sollten die drei von aktuell neun Bewerbern sein? Die Ukraine, Moldau und Serbien? Georgien, das Kosovo und Nordmazedonien, die seit gut einem Jahrzehnt in der Warteschleife kreisen? Will von der Leyen die Europäische Union global ausrichten, kann nur gelten: Alle oder keinen! Wer von den Aspiranten auf dem Westbalkan übrig bleibt, wird zum unsicheren Kantonisten mit latenter Russland-Affinität.
Polen würde mächtiger werden
Serbien, Bosnien, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien, Albanien, die Ukraine, Georgien und Moldau hereinholen zu müssen, kann allerdings nur heißen, auf die üblichen Beitrittskriterien zu verzichten. Die Prüfsteine Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Marktwirtschaft, Minderheitenschutz und so weiter hätten sich erledigt. In der Folge wäre eine EU der 35 eine vollkommen andere als die der derzeit 27. Weshalb die Kommissionspräsidentin eine solche Aufstockung als „Katalysator für den Fortschritt“ labelt, bleibt rätselhaft. Die „Union plus“ würde östlicher, um 55 Millionen orthodoxe Christen größer und mit Polen einen Staat haben, der dank des Zuwachses aus Ost- wie Südosteuropa regionalmächtig würde.
Spaßeshalber sei die Frage aufgeworfen, was das im Moment bedeuten würde. Es hieße: keine klare Trennung von Exekutive und Judikative, Veto gegen EU-Quoten für Migranten, keinen Freihandel, sondern Stopp für Getreideeinfuhren aus der Ukraine, mehr Souveränität für den eigenen Staat statt Subsidiarität innerhalb der EU. Dieser wären Standards zugemutet, die sie mit den berühmten Acquis communautaire brechen ließen.
Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten?
Es sei denn, man erinnert sich der in den 1990er-Jahren erwogenen Idee, einen Bund der verschiedenen Geschwindigkeiten anzustreben, und richtet nun einen der unterschiedlichen Mitgliedschaften ein. Das Prinzip: Wer zu wenig Rechtsstaatlichkeit mitbringt, hat als Mitglied weniger Rechte. Wer als Agrarland Ukraine den EU-Agrarmarkt zu sprengen droht, darf dort nur höchst quotiert verkaufen.
Das Ansinnen geopolitischer Akteur verkäme zur Schimäre. Die EU geriete innerlich zu labil, um nach außen agil zu sein. Setzt sich von der Leyen darüber hinweg, muss man auf eine Vorliebe für alternative Wirklichkeiten erkennen, die sich in ihren Reden heimischer als Realitäten fühlen, und kann nur hoffen, es möge am 13. September 2023 ihr letzter State-of-the-Union-Auftritt gewesen sein.