Polizei an US-Universitäten: Ist das diese Cancel-Culture, vor der ihr gewarnt habt?

Campus Gerade noch wurde vor der Bedrohung der Meinungsfreiheit durch Wokeness gewarnt – jetzt werden tatsächlich Demonstrierende festgenommen, und die Öffentlichkeit applaudiert. Der Stanford-Professor Adrian Daub über die Palästina-Protestcamps
Ausgabe 19/2024
Kabelbinder statt Kufiya: Die New Yorker Polizei geht gegen propalästinensische Proteste an der Universität vor
Kabelbinder statt Kufiya: Die New Yorker Polizei geht gegen propalästinensische Proteste an der Universität vor

Foto: Ron Haviv/Redux/laif

Texas State Troopers in voller Kampfmontur auf dem Campus in Austin. Das New York Police Department bei der Festnahme von Studierenden an der Columbia University. Tränengas über der New York University. Die Bilder aus der vergangenen Woche scheinen von einem historischen Wiederholungszwang geprägt: Militarisierte Polizei auf dem Campus hat in den USA eine lange Geschichte und ungute Geschichte. Der Wunsch, ja die Lust von großen Teilen der Öffentlichkeit, schwarze Stiefel und Schlagstöcke gegen Studierende zu sehen, auch.

Dass die Blicke der westlichen Welt auf US-Universitäten gerichtet sind, ist dabei keineswegs neu. Seit Jahren hören wir, dass auf dem amerikanischen Campus die freie Meinungsäußerung mit Füßen getreten werde, die woke Orthodoxie wurde mit Polizeimetaphern belegt (Sprachpolizei, Sprechverbote). Wie viele Geschichten über Studierende, die an den Universitäten wegen Rassismus oder Sexismus „angeklagt“ wurden, musste man in den letzten zehn Jahren in der Presse lesen? Passiert ist diesen Studierenden in der überwältigenden Zahl der Fälle überhaupt nichts.

Nun wird die demokratische Meinungsäußerung hier tatsächlich mit Stiefeln getreten, nun werden tatsächlich Studierende und Professor:innen abgeführt. Nun hagelt es Suspendierungen, Verweise, Räumungen und Festnahmen. Und diejenigen, die noch vor wenigen Wochen denselben Studierenden genau erklären wollten, was für „unbequeme“ Meinungen man auf dem Campus „aushalten“ müsse, schweigen oder applaudieren gar.

Der Protest war vielfältig: Es wurde auch ein Seder zum Pessach gefeiert

Begründet wird dieser Applaus natürlich nicht mit Lust an der Einschränkung der Meinungsfreiheit, sondern mit der Bekämpfung von Antisemitismus. Dass in den Protestcamps auf den amerikanischen Campussen auch äußerst problematische Parolen skandiert werden, dass viele der Protestierenden nicht eben als Nahostexpert:innen auffallen, ist klar. Jene vielen studentischen Stimmen, die zumeist versuchen einzuordnen oder zu relativieren, werden indes nicht gehört. Warum auch, hat man doch Jahrzehnte damit verbracht, den Amerikanern anzuerziehen, dass jeder von ihnen besser beurteilen kann, was auf dem Universitätsgelände passiert, als die jungen Leute, die tatsächlich dort leben.

Die Redaktion der Student:innenzeitung Columbia Spectator sah die Krise woanders: Die Präsidentin und ihre Verwaltung seien es, „die uns als Gemeinschaft auseinanderreißen, anstatt uns zusammenzuführen.“ Studierende an der NYU verwiesen darauf, dass nur wenige Stunden vor der gewaltsamen Räumung des Gould Plaza das islamische Salāt im Camp stattfand – und ein Seder zum Beginn des Pessach-Fests.

Allein schon der genutzte Artikel ist falsch: „der“ Campus. Die Demonstrationen, die im elitären Columbia ihren Anfang nahmen, sind längst an öffentliche Unis in Texas und Berkeley geschwappt, ans Swarthmore College in Pennsylvania und ans Emerson College in Boston, sowie an Cal Poly Humboldt in Arcata – eine Institution, die 500 Kilometer nördlich von San Francisco an der entlegenen Pazifikküste liegt und an der der Anteil von Latinos 33 Prozent beträgt und der Anteil aus gering verdienenden Familien 52 Prozent.

Das Bild von „dem“ amerikanischen Campus und „dem“ amerikanischen Studierenden, das Medienvertreter, Kongressabgeordnete und selbst jene Kolleg:innen an Eliteinstitutionen zeichnen, die in den Medien bevorzugt vorkommen, ist eine bewusste Verfälschung einer zutiefst uneindeutigen, komplizierten, widersprüchlichen Realität. Die vielen Journalist:innen, die am Dienstag auf dem Broadway in New York Zitate des Campus-Protests sammelten, wo der Broadway nicht auf dem Campus liegt und sie irgendwelchen New Yorkern das Mikrofon entgegenstreckten, zeigt die ungute Verschachtelung von Metaphern und Metonymien, vermittels derer sich das Reizobjekt Campus überhaupt erst konstituiert.

Proteste an US-Universitäten von 1968 bis heute

Der Punkt ist nicht, dass bei diesen Protesten alles richtig läuft (bei welchen tut es das?). Der Punkt ist auch nicht, dass im Rahmen dieser Proteste nicht auch Falsches, Gefährliches, Ahndungswürdiges gesagt werden kann und wurde. Der Punkt ist, dass das, was hier passiert, dynamisch ist, vielfältig. Und dass die Nuancen, die amerikanische Medien mit schöner Regelmäßigkeit entdecken, wenn es darum geht, Elon Musk nicht einen Antisemiten nennen zu müssen, hier wohl bewusst vorenthalten werden.

Warum wird gerade der Protest der Gaza-Solidarität so stark symbolisch aufgeladen? Amerikanische College-Studierende sind historisch nicht durch politisch motivierte Gewalt aufgefallen (sexuelle Gewalt steht auf einem anderen Blatt). Vielmehr sind sie traditionell Opfer politisch motivierter Gewalt. Nur dass diese im Normalfall von Polizei, Nationalgarde und Militär ausgeht, und daher nie geahndet und schnell wieder vergessen wird.

Denn weder die Protestcamps noch die harte Reaktion der Polizei sind präzedenzlos. Viele Studierende, die als Freedom Riders in den Südstaaten 1961 Afroamerikaner beim Wählen unterstützen wollten, wurden von örtlichen Sheriffs ermordet. 1968 schoss die Highway Patrol auf streikende Student:innen in Orangeburg, North Carolina – drei starben. Als Ronald Reagan 1969 die Nationalgarde auf den Campus in Berkeley beorderte, erschossen die Uniformierten einen Zuschauer. Ein Jahr später erschoss die Nationalgarde auf dem Campus von Kent State vier Studierende.

Aber auch 1985 versuchten Studierende an der Columbia, einen Boykott Südafrikas zu erzwingen, sie hielten die Uni drei Wochen lang in Atem. Und zuletzt hatte Occupy Wall Street im November 2011 in Berkeley ein Protestcamp in etwa dort, wo jetzt das Palästina-Camp steht. Natürlich weckt das harte Durchgreifen der Sicherheitskräfte auch Erinnerungen an die Black Lives Matter-Proteste ab 2014. Damals griffen die Universitäten allerdings kaum durch gegen ihre Studierenden, dass die Polizei gerufen wurde, war eine Seltenheit. Aber, wie der Kolumnist Jamele Bouie vermerkt, machen sie jetzt, was sie damals vielleicht gerne getan hätten, aber nicht wagten.

Es geht nicht um Juden – auf allen Seiten nicht

Im Umgang mit dem Campus ist die Unverhältnismäßigkeit das heimliche Prinzip. Denn die Invasion der Uniformierten ist vor allem ein Stellvertreterkrieg. Um spezifische Handlungen der Aktivist:innen scheint es kaum zu gehen. Auch wie der Bretterzaun, mit dem NYU die eigenen Studierenden vom ehemaligen Solidaritätscamp fernhalten wollte, jüdische Studierende schützen soll, ist schwer nachvollziehbar. Um Juden, egal auf welcher Seite, geht es bestenfalls sekundär. Die Abneigung, die auf die amerikanische Campusse, und vor allem auf die dort Studierenden, niederprasselt, ist eine Neuverhandlung jüngster amerikanischer Geschichte. Es geht mal wieder gegen „Wokeness“, es geht um Amerikas Schuld oder Unschuld, es geht um Identitätspolitik, es geht um den demographischen Wandel. Dass unter den Protestierenden viele jüdische Studierende sind, das wischt man beiseite, der Grabenkämpfe zuliebe, die man viel lieber führen möchte.

Der Campus ist in den vergangenen 50 Jahren zu einer Projektionsfläche geworden, vermittels derer die amerikanische Gesellschaft (wie seit den 90er Jahren auch bestimmte westeuropäische Gesellschaften) sich ihrer selbst vergewissert. Der Campus ist immer virtueller geworden. Eine Simulation, die mit der gelebten Realität nur punktuell noch übereinstimmt, die aber umso unabdinglicher Teil einer reaktionären Bewegung innerhalb der amerikanischen Politik geworden ist.

Die Motive und die Ideen, die diese jungen Menschen antreiben, sind vielfältig. Und man wird den Verdacht nicht los, dass man bewusst versucht, diese Motive nicht zu genau zu reflektieren. Um nur eine Rechnung anzustellen: Die jungen Menschen, die auf dem South Lawn kampierten, dürften zumeist im einundzwanzigsten Jahrhundert geboren sein. Was auch bedeutet: Sie können sich nicht mehr an den Schrecken des elften Septembers erinnern, an die globale Erschütterung über die brutale Tat.

Lieber auf den Campus starren statt nach Gaza

Woran sie sich aber sehr wohl erinnern können: die massiven Einschränkungen der Bürgerrechte und Menschenrechte, den Rassismus, die brutalen Feldzüge, vermittels derer die verwundete Supermacht sich mit jedem Jahr mehr und mehr ins Unrecht setzte. Sie erinnern sich daran schlicht deshalb, weil sie mit diesen Konsequenzen tagtäglich leben. Für viele Studierende begeht Israel mit seinem Vorgehen in Gaza einen riesigen Fehler, so, wie die USA im Irak einen Fehler begangen haben. Diese jungen Menschen haben in ihrem Leben keinen einzigen Tag verlebt, der nicht unter dem Schatten dieser Fehler stand, der US-amerikanischen Geschichte nach 9/11. Sie leben mit den tödlichen Konsequenzen amerikanischer Macht, die nicht einer genauen Prüfung durch die Bürger unterzogen wird.

Die Frage ist, warum man ihren Aktivismus, ihren Zorn nicht in diesen Kontext einbettet. Gerade die Inbrunst, mit der die Nachfahren der größten Judenmörder der Geschichte diesen jungen Menschen krudesten Antisemitismus zuschreiben, scheint eher dazu da, die eigenen Fehler nicht reflektieren zu müssen. Wie der Judaist Samuel Catlin schreibt: „Die Verlagerung des Kriegsschauplatzes auf den Campus verwandelt die sehr reale Gewalt gegen Israelis und, in weitaus größerer Zahl, gegen Palästinenser in eine diffusere Angst um die Sicherheit der amerikanischen Juden.“

Die Student:innen von Columbia, NYU, Berkeley und anderswo haben ihr eigenes Schicksal in der Hand. Sie werden mit den Konsequenzen ihrer Proteste leben müssen, und man kann nur hoffen, dass sie dementprechend handeln. Aber sie sind eben auch bevorzugt Zielscheibe. Die Amerikaner starren derzeit bevorzugt auf den Campus und scheinen dort die aufwühlenden Fragen, die der Krieg in Gaza aufwirft, verhandeln zu wollen. Auf dem Rücken der Jugendlichen.

Dies wahrscheinlich aus genau demselben Grund, aus dem deutsche Redaktionen derzeit so auf den amerikanischen Campus starren. Um nicht auf Gaza starren zu müssen. Hier scheinen den Menschen die Fragen noch lösbar, die Schuld klar verteilt: bei den jungen Menschen, die diese Welt gerade erst betreten. Und nicht bei uns, die wir sie gemacht haben.

Adrian Daub ist Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft und Germanistik an der Stanford University in Kalifornien und freier Autor.

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