Antisemitismus-Skandal der Documenta: „Nicht unter den Teppich kehren“

Interview Ute Meta Bauer war Teil der Findungskommission der „documenta fifteen“. Was folgt für sie aus dem Antisemitismus-Skandal?
Exklusiv für Abonnent:innen | Ausgabe 27/2022

Ute Meta Bauer gehört dem achtköpfigen Beirat an, der 2019 das indonesische Kollektiv Ruangrupa mit der Leitung der Documenta 15 betraute. Als diese Mitte Juni nun eröffnete, fielen einem Besucher antisemitische Motive auf einem Bild der indonesischen Künstlergruppe Taring Padi auf. Es wurde abgebaut, der Streit um die Documenta als Ganze ebbt seither nicht ab.

der Freitag: Frau Bauer, die antisemitischen Motive auf dem Bild wurden teils damit erklärt, es handle sich um nicht-westliche Kunst, die falsch verstanden werde. Überzeugt Sie das?

Ute Meta Bauer: Das kann man so nicht sagen. Letztlich stammen diese Stereotypen aus dem Westen, es sind Einflüsse einer Bildsprache aus dem Westen. Seit Hunderten von Jahren sind Künstler und Künstlerinnen international verortet, auch Künstler aus Südostasien waren zu Gast an europäischen Höfen. Indonesierinnen und Indonesier studieren in Deutschland, es besteht ein Austausch. Aber die gesellschaftlichen und politischen Kontexte sind sehr unterschiedlich.

Ist es in Zeiten einer global vernetzten Kunstszene noch sinnfällig, von nicht-westlicher und westlicher Kunst zu sprechen?

Die Kunstgeschichte nimmt diese Trennung vor. Aber die Frage ist schon: Ist das heute noch so haltbar? Schon in der Moderne sieht man den Einfluss afrikanischer Kunst auf die Kubisten, auf Picasso. Es könnte produktiv sein, diesbezüglich noch mal auf die Documenta 12 zu schauen, auf ihr Verständnis der Migration von Formensprache. Okwui Enwezor als erster afrikanischer Leiter hat für die Documenta 11, bei der ich Co-Kuratorin war, Kunst aus allen Geografien der Welt gleichberechtigt nebeneinander in den sogenannten White Cube situiert. Wir wurden damals dafür kritisiert und gefragt, wie kann man Kunst aus Afrika, also vermeintlich nicht-westliche Kunst, in solch cleanen Ausstellungsräumen zeigen. Das sind fortgesetzte Klischees unseres jeweiligen Kunstverständnisses, wie wir Kunst verorten, diese lesen und begreifen. Es geht darum, zu verstehen, welche Rolle Kunst im Spezifischen – nicht Kultur im Allgemeinen – in den jeweiligen Gesellschaften und politischen Systemen einnimmt. Kunst kann dazu beitragen, Zustände, die ein Tabuthema sind, sichtbar zu machen, auch wenn dies zunächst zu Missverständnissen führt, auf Abwehr stößt.

Was halten Sie von dem Etikett, es sei der „globale Süden“, der in Kassel ausstellt?

Es wäre zu einfach, die documenta fifteen auf den globalen Süden zu reduzieren. Unter anderen ist das Trampoline House aus Kopenhagen dabei – dessen Mitinitiatorin Frederikke Hansen ist auch im künstlerischen Leitungsteam. Vielen Gruppierungen auf dieser Documenta ist gemeinsam, dass sie Kunst als Bestandteil gesellschaftlicher Formierung und Entscheidungsprozesse verstehen. Bis auf die Documenta 11 wurde bisher jede Ausgabe von europäischen Kuratorinnen oder Kuratoren geleitet. Da eine Documenta als Weltausstellung wahrgenommen werden möchte, muss sich das ändern. Die Bedingungen von Kunstproduktion und die Kunstbegriffe unterscheiden sich jedoch in verschiedenen Teilen der Welt. Eine Diskussion um den „Black Atlantic“ fand bereits vor 15 Jahren im Haus der Kulturen der Welt in Berlin statt, um der Ausstellung von Kunst identisch mit Nationalstaaten entgegenzutreten, und geopolitische und historische Zusammenhänge hinzuzuziehen – im Fall der „Black Atlantic“ die Geschichte des globalen Sklavenhandels, des Kolonialismus. Diese wichtigen Auseinandersetzungen sollte man jetzt keinesfalls aufgeben und fordern, dass alle Kunst gleichberechtigt in den Ausstellungen der Welt gezeigt wird, ohne ihre geopolitischen Ursprünge zu kommunizieren. Aber zu sagen, das ist nun die Documenta des globalen Südens, ohne die Geschichte dieses Diskurses zu integrieren, der untrennbar mit der Geschichte der sogenannten westlichen Welt verzahnt ist, würde sie exotisieren. Ruangrupa leiteten lange die Jakarta-Biennale und haben 2016 das Kunstfestival Sonsbeek in Arnheim kuratiert. Diese Kunstwelten sind global verschränkt, aber vertreten einen anderen Kunstbegriff.

Welche Erwartung war für Sie als Mitglied der Findungskommission mit der Entscheidung verknüpft, dass Ruangrupa diese Documenta kuratieren soll?

Fast jede Ausgabe einer Documenta hat rückblickend einen Paradigmenwechsel ausgelöst, durch die ihr zugeschriebene Deutungskraft hat sie die Aufmerksamkeit der weltweiten Kunstpresse, des Kunstmarkts und der Politik. Deshalb kann sie in ihrem Fünfjahres-Rhythmus, noch mehr als die Venedig-Biennale, ein Spiegel ihrer Zeit sein, und wie man es jetzt erlebt, sogar ein Spiegel der Welt. Eine Documenta hat Gewicht – daher auch diese heftigen Angriffe in zahlreichen deutschen Medien, da geht es um den Verlust der Deutungshoheit, wenn etwa ein Documenta-Veteran wie Bazon Brock sagt, es handle sich bei der Documenta fifteen um die Abschaffung von 600 Jahren Aufklärung. Er halte sie für die beste Documenta, denn sie zeige den Zustand der Welt auf, die Abschaffung der autonomen Kunst, sofern ich ihn richtig verstehe. Da gibt es viel Gesprächsbedarf, und es bedarf der Bereitschaft zur Auseinandersetzung auf allen Seiten.

Welchen Paradigmenwechsel hatten Sie sich erhofft?

Den erhoffen wir uns immer noch. Das sind jetzt heftige Debatten, das sind schmerzliche Debatten, die gehen tief, aber es ist wichtig, sie zu führen, denn diese Situation spiegelt die Welt, so einfach das klingen mag, so kompliziert ist es. Antisemitismus ist nicht ein Problem der documenta, er ist eine Tatsache, dass Antisemitismus in Deutschland existiert und auch in anderen Teilen der Welt. Ich habe gestern eine Aufzeichnung einer Radiosendung aus Deutschland gehört. Es wurde eine junge Familie gefragt, ob man mit Kindern überhaupt auf die documenta fifteen gehen könne. Die Mutter, eine Journalistin, ist mit ihren 13- und 10-jährigen Töchtern hingefahren und sagte, sie sei erstaunt gewesen, wie informiert ihre 13-Jährige sei, sie nähmen bei ihr in der Schule gerade die Geschichte des Kolonialismus durch. Die Tochter war begeistert von Taring Padi, weil sie diese Themen ansprechen, und die kleinere Tochter war beeindruckt von diesen Rätseln auf den sogenannten Wimmelbildern. Sie konnte mit ihren Kindern auf dem Heimweg über Kolonialismus und Antisemitismus diskutieren und hätte vorher nicht gedacht, dass sie das interessiere. Es geht nicht darum, das Banner People’s Justice von Taring Padi und dessen Aufstellung auf dem Friedrichsplatz zu entschuldigen. Aber womit man sich auseinandersetzen muss: Warum hat die künstlerische Leitung diese Bildsprache anders gelesen? Warum erhielt es so einen zentralen Platz? Es wird nun auf allen Ebenen nach Schuldigen gesucht, anstelle zu klären, worauf uns das hinweist.

Zur Person

Ute Meta Bauer, geboren in Stuttgart, war Direktorin des Visual Arts Program am MIT in Cambridge und gründete das Centre for Contemporary Art in Singapur, wo sie seit 2013 lebt. Sie war für Biennalen in Venedig, São Paulo und Berlin tätig

Worauf nach Ihrer Ansicht?

Auf einen massiven Gesprächsbedarf. Und darauf, wie zersplittert unsere Gesellschaften sind. Wir leben nur noch in unserer Blase von Gleichdenkenden. Demokratie heißt aber nicht, wir sind uns alle einig, Demokratie heißt auch Auseinandersetzung mit konträren Stimmen, mit Minderheitenstimmen und mit uns unliebsamen Stimmen. Ich hatte in meinem Beirat im Künstlerhaus Stuttgart die Republikaner sitzen. Jede Partei, die, demokratisch gewählt, im Stadtrat vertreten war, hatte eine Stimme in unserem Beirat. Das war eine Herausforderung, ich musste mich mit ihnen auseinandersetzen, aber sie sich auch mit uns. Sie sind dann irgendwann den Sitzungen ferngeblieben.

Die Frage bleibt, warum Taring Padi in ein Bild, das die Unterstützung des Westens für das Suharto-Regime kritisiert, judenfeindliche Stereotype einbauen?

Das ist für uns nicht nachvollziehbar und natürlich muss man das fragen. Aber wir können es nun nicht unter den Teppich kehren und sagen, das darf nicht sein. Es ist wichtig, nun hinzuschauen, unter Teppiche zu schauen, in unsere Dachstuben, überall, wohin wir Antisemitismus, aber auch andere Rassismen gerne verbannen würden. Ich meine das nicht im Sinne von Kontrolle, sondern in Bezug auf die aktuelle Situation, in der eine Tür nach der anderen geschlossen wird, anstelle zu sagen, lasst uns dies gemeinsam angehen und uns damit auseinandersetzen. Schnell steht die Forderung im

Raum, dass am besten die Documenta in Zukunft wieder ein Kurator aus dem Westen machen sollte, möglichst einer, der die Spielregeln hier bei uns kennt, damit so etwas „Unsägliches“ sich nicht wiederholt. Es ist wichtig, die Tür weiter offen zu halten, die Documenta erzeugt nicht den Zustand der Welt, sie spiegelt diesen. Diese Documenta sucht und bietet Alternativen, will diskutieren. Wir müssen ins Gespräch kommen. Diese Welt ist in keinem guten Zustand.

Der Anspruch von Ruangrupa ist, Minderheiten zu hören und den lokalen Kontext einzubeziehen. Warum floss Antisemitismus als Thema nicht in diese Documenta ein? Spätestens als die Diskussionen im Januar darüber losgingen, hätte das Team sich damit doch befassen müssen?

Das kann man fragen, aber man muss auch sagen, bei solch einem umfangreichen Projekt wie der Documenta steht im Januar meist alles fest, sonst kann man diese im Juni nicht zur Eröffnung fertig haben. Das ist keine Entschuldigung, es entspricht meiner Erfahrung als Mitglied des kuratorischen Teams der Documenta 11. Wir waren im September 2001 mit 9/11 konfrontiert. Die Ausstellung eröffnete im Juni 2002. Wir haben diskutiert, ob und wie das die D11 verändern sollte, müssen und können wir dies in die Ausstellung einbringen? Wir kamen zum Schluss, wir schaffen das nicht, wir können das in seiner tiefen und langfristigen Bedeutung, in der Komplexität der Hintergründe nicht leisten. Jede künstlerische Leitung setzt einen anderen Schwerpunkt, hat eine andere Perspektive auf die Welt, in der wir leben. Für Okwui standen postkoloniale Konditionen dieser Welt im Vordergrund, andere haben sich mit der Gründung der Documenta direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, deren spezifischer Geschichte beschäftigt.

Bei Adam Szymczyks Documenta 14 war Maria Eichhorn mit ihrem Institut vertreten, das Enteignungen in der NS-Zeit nachging, 2012 setzte Susan Philipsz sich am Hauptbahnhof mit den Deportationen aus Kassel auseinander. Auch deshalb fällt es dieses Mal so auf, dass dieses Thema fehlt.

Das stimmt natürlich, und die Unterstellung von Antisemitismus im künstlerischen Leitungsteam hat man eventuell unterschätzt. Aber es stellt sich die Frage, inwieweit kann und sollte man die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte von jeder Documenta verlangen. Man sollte das nicht zwangsläufig von einer künstlerischen Leitung aus Indonesien erwarten. Zuletzt konnten sich die Ausgaben der Documenta jeweils mit einem Konzept vorstellen, das keine Vorgaben hat, das macht sie ja aus. Eventuell geht das heute nicht mehr.

Wie sieht Ihre Antwort aus?

Es geht auch darum, aus der aktuellen und den vergangen Ausgaben zu lernen, die jeweiligen Veränderungen, die sie hervorbrachten, zu reflektieren. Es gibt mittlerweile bis zu 400 Kunstbiennalen weltweit. Ist die Documenta einfach nur eine Biennale, die mehr Budget und eine längere Vorbereitungszeit hat? Oder ist sie deshalb so wichtig, weil sie mit ihrer Deutungshoheit einen anderen Ansatz von Kunst und ein anderes Verständnis der Rolle von Kunst in verschiedenen Gesellschaften einem breiten Publikum vorstellen kann? Das ist provokativ, und deswegen sind wir unter Umständen in dieser Konfrontation von Weltanschauungen. Es ist leicht zu sagen, das war naiv. Es bedarf eventuell genau dieses Risikos, sich angreifbar zu machen. Wenn es darum geht, perfekt sein zu wollen und unangreifbar, dann gibt es nichts mehr zu diskutieren, dann muss man keine Fragen mehr stellen, dann gehen auch wir in der Kunst auf Nummer sicher. Zahlreiche Politiker und Politikerinnen machen das schon: das ist eine Kultur der Vermeidung.

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Geschrieben von

Christine Käppeler

Ressortleiterin „Kultur“

Christine Käppeler leitet seit 2018 das Kulturressort des „Freitag“, davor schrieb sie als Redakteurin vor allem über Kunst und die damit verbundenen ästhetischen und politischen Debatten. Sie hat Germanistik, Amerikanistik, Theaterwissenschaften und Journalismus in Mainz und Hamburg studiert und nebenbei als Autorin für „Spex. Das Magazin für Popkultur“ gearbeitet.

Christine Käppeler

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