Am vergangenen Sonntag wurde in der Ukraine gewählt, am Abend widmete sich Günther Jauch dem „Social Freezing“ und offenbarte einmal mehr: Viele Themen, die im postsowjetischen oder osteuropäischen Raum kochen und brodeln, liegen bei uns auf Eis. Es gibt zwar keinen Eisernen Vorhang mehr, aber die Hoffnung, deren Probleme seien nicht unsere, ist eine Illusion. Wir verdrängen ohnegleichen, betreiben fast einen Kalten Krieg light, in dem es zwar kein uns entgegengesetztes System mehr gibt, aber einen konkreten Feind: Putin. Die Ukraine selbst, denn bei dem Konflikt handelt es sich vor allem um einen innerukrainischen, haben wir bisher kaum sehen wollen.
Die Einschätzung jedenfalls, Pro-Europäer hätten gesiegt, gleicht Kafkas legendärem Tagebucheintrag vom 2. August 1914: „Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt. – Nachmittags Schwimmschule“. Wir wollen von den Ukrainern wenig wissen, weil wir unsere eigene Realität in einer radikalisierten Variante nicht sehen wollen: Die Politikverdrossenheit der Wähler (dort wie hier gehen die Menschen kaum noch wählen) und einen rechten, nationalistischen Ruck.
Die Regierungsparteien haben eine große Mehrheit der Stimmen bekommen: Eine von ihnen heißt zwar „Volksfront“, doch in Wahrheit sind das schnell gebildete Blöcke des gemäßigten Präsidenten Petro Poroschenko und des kriegerisch und populistisch agierenden Ministerpräsidenten Arsenij Jazenjuk. Er ist der Hauptgewinner. Die Parteien Batkiwschyna (Vaterland) und Swoboda (Freiheit) sowie die „Radikale Partei“ des Populisten Oleh Ljaschko, alle fünf bis sieben Prozent, sind eine Art ukrainische AfD, allerdings mit einem anderen Richtungsvektor.
Ihre Aussage: populistischer, antirussischer Nationalismus und eine klare Positionierung pro Europa und – im Fall der Vaterland-Partei – auch pro NATO. Ihre „kriminellen Ausländer“ heißen Russen und Donbass-Bewohner. Frau Timoschenko warb unter anderem mit dem Plakat „Wer nicht in der NATO ist, ist ein Russe.“ Sie alle: Poroschenko, Jazenjuk und Timoschenko, haben bereits unter anderen Präsidenten gedient.
Es ist keine faschistische Junta, die heute in Kiew regiert. Die russische Propaganda irrt hier. Es ist auch kein Kampf weniger Faschisten gegen bewusste Europäer, wie wir es hier lesen. Es ist eine nationalistische, populistische Einheit an der Macht. Die Nicht-Populisten werden im neuen Parlament rar sein. Die politischen Akteure verbinden sich temporär im Kampf gegen Janukowitschs Partei der Regionen, die einzelne Delegierte im neuen Parlament haben wird, und vor allem gegen die Kommunisten, die in der Ukraine ein Wählerpotenzial von bis zu 20 Prozent haben, jedoch im Vorfeld von der Regierung entscheidend geschwächt wurden. Gegen die Kommunisten läuft nun ein Verbotsverfahren.
Wir sind bereit, der Ukraine einen Weg nach Europa zu erleichtern, in der Hoffnung, das Nationalistische würde sich in einem postnationalen europäischen Ganzen auflösen. Doch wir haben dieses Ganze immer weniger im Griff. Noch mehr: Wir wollen es oft nicht. Ein Blick nach Frankreich, Ungarn, auf die Wahlerfolge der AfD und die politische Apathie der meisten genügt. Eine Talkshow über „Social Freezing“ am Wahlabend in der Ukraine zeigt, dass wir von einem Europa als politischem Labor nicht wirklich etwas wissen wollen. Aber wissen sollten.
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