Berlinale Wettbewerb 2024: Eine Filmauswahl, die überzeugt
Kino Von Andreas Dresens „In Liebe, Eure Hilde“ bis „Small Things Like These“ mit Cillian Murphy: Eine Bilanz des letzten Berlinale-Wettbewerbsprogramms unter Mariette Rissenbeck und Carlo Chatrian
Ellen Lunies (Lilith Stangenberg) ist Toms (Lars Eidinger) Schwester – in Matthias Glasners Film „Sterben“ beginnt sie eine Affäre und gibt sich dem Alkohol-Rausch hin.
Foto: Jakub Bejnarowicz / Port au Prince, Schwarzweiss, Senator
Noch ist die 74. Berlinale nicht vorbei, da wird allerorten schon über die Zukunft gegrübelt: Wie wird sich das Festival ab dem nächsten Jahr unter der neuen Leitung von Tricia Tuttle entwickeln? Diese Berlinale ist nämlich die letzte, die das Führungsduo aus Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek verantwortet. Verglichen mit ihren Vorgängern Dieter Kosslick und Moritz de Hadeln, die das Festival je für knapp 20 Jahre gestalten konnten, war Chatrian und Rissenbeek nur ein von Umbrüchen geprägtes Intermezzo vergönnt. Durch erschwerte Vorführungsbedingungen im Zuge der Pandemie und eine generelle Sorge um das Fortbestehen von Kinos und Filmfestivals angesichts des rapiden digitalen Wandels mussten sie seit 2020 die Berlinale steuern. Pro
nos und Filmfestivals angesichts des rapiden digitalen Wandels mussten sie seit 2020 die Berlinale steuern. Programmkürzungen und zuletzt die Streichung ganzer Sektionen sind das Ergebnis. Langweilig wurde es der Doppelspitze in diesen Zeiten des oft bestürzenden Wandels wohl nie.Oscar-Anwärter: Cillian MurphyVielleicht hatte man sich deshalb auf einen Eröffnungsfilm geeinigt, der leise Töne anschlägt: In Small Things Like These war Oscar-Anwärter Cillian Murphy als Kohlehändler Bill zu sehen, der Mitte der 1980er in seiner irischen Kleinstadt mit dem Leid einer jungen Insassin des kirchlich geführten Magdalenenheims für „gefallene“ Frauen konfrontiert ist. „Gewisse Dinge im Leben muss man ignorieren“, rät ihm seine Frau, doch aufgrund eigener Kindheitserfahrungen kann Bill nicht einfach wegschauen und entwickelt im etwas träge erzählten Drama den Mut, Hilfe zu leisten.Eingebetteter MedieninhaltDeutlich zugänglicher präsentierte sich Andreas Dresens ebenfalls mit Zivilcourage befasster Wettbewerbsbeitrag In Liebe, Eure Hilde. Er handelt von Hilde Coppi, die in der NS-Zeit Widerstand leistete und 1943 ebenso wie ihr Ehemann Hans in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurde. Regisseur Andreas Dresen und Drehbuchautorin Laila Stieler nehmen das Publikum durch ihre Erzählweise in einen interessanten emotionalen Zangengriff: Das in sachten Farben gehaltene Drama beginnt mit der Verhaftung der hochschwangeren Hilde und zeigt ihre anschließende Zeit im Frauengefängnis, wo sie ihren Sohn zur Welt bringt und sich vergeblich um eine Begnadigung bemüht. Rückblenden befassen sich derweil mit der Zeit vor Hildes Verhaftung bis zur ersten Begegnung mit Hans. Leise, aber wirkungsvoll wird Hilde als etwas zaghafte Frau mit einer dennoch gefestigten Überzeugung von der Unmenschlichkeit des NS-Regimes porträtiert.Auf gegensätzliche Weise handhabt ein weiterer deutscher Wettbewerbsbeitrag die Emotionen seines Publikums: Sterben heißt der Film von Matthias Glasner und ebenso die Komposition, die Dirigent Tom (Lars Eidinger) mit einem Jugendorchester vorbereitet. Die Proben gestalten sich mühsam, was dem Perfektionismus des depressiven Komponisten Bernard (Robert Gwisdek) geschuldet ist. Unterdessen rücken Toms gebrechliche Eltern in der norddeutschen Provinz dem Tod immer näher – doch weder Tom noch seine unangepasste Schwester nehmen wirklich Anteil an deren Leid. Einen kleinen Film über seine Mutter wollte er ursprünglich drehen, erklärte Matthias Glasner auf der Pressekonferenz. Herausgekommen ist ein dreistündiges, unsentimentales Familienepos über fehlende Bindungen und divergierende Lebensentwürfe. Schmerzhaft ehrliche, pointierte Dialoge sorgten bei der Vorführung von Sterben gleichermaßen für Gelächter und Entsetzen. Es ist ein Film, der jeder Erwartbarkeit ausweicht und gerade durch seine Nüchternheit einen bleibenden Eindruck hinterlässt. „Kitsch ist, wenn das Gefühl die Wirklichkeit nicht erreicht“, erläutert Bernard an einer Stelle, und man merkt Sterben die Bemühung an, es anders machen zu wollen.Großartig: „A Different Man“Wie ermüdend Melodrama sein kann, konnte man im Wettbewerb mit dem dystopischen Drama Another End erleben. Um die Trauerarbeit hinauszuzögern, können Hinterbliebene in der hier gezeichneten Zukunft das simulierte Bewusstsein ihrer verstorbenen Angehörigen zeitweise auf hierfür gemietete Körper übertragen. Aus welchem Zwang heraus Menschen ihre Körper für diese Praxis hergeben, wird im unausgereiften Sci-Fi-Plot nicht näher ergründet. Stattdessen ist Gael García Bernal mit dauerhaft leidender Miene zu sehen, der ein paar letzte Momente mit seiner verunglückten Freundin erleben will, aber mit ihrer neuen Erscheinung zunächst fremdelt. „Ein Körper ist doch nur ein Körper“, erklärt ihm seine ebenfalls trauernde Nachbarin und ignoriert genauso wie der Film selbst aufs Ärgerlichste die ausbeuterischen Implikationen der hier dargestellten Technologie.Dass ein Körper nur ein Körper sei, dem widersprechen bei dieser Berlinale diverse, weitaus durchdachtere Filme. Allen voran ist da Aaron Schimbergs schwarzhumoriges Noir-Drama A Different Man zu nennen. Aufgrund einer Krankheit ist das Gesicht des Schauspielers Edward von Wucherungen übersät, woran ihn die Reaktionen in seiner Umgebung tagtäglich erinnern. Eine brachiale medikamentöse Therapie beschert ihm unverhofft ein unversehrtes Äußeres. Ohne zu zögern, streift Edward seine alte Identität ab und schreitet fortan als konventionell attraktiver Immobilienmakler Guy durchs Leben. Doch als für ein Theaterstück über ebenjenen Edward gecastet wird, will er unbedingt sein altes Ego selbst spielen – mit bizarren Folgen. Beißend satirisch, aber immer auch nachdenklich nimmt A Different Man unsere Besessenheit mit Äußerlichkeiten und filmischer Repräsentation von Krankheit und Behinderungen auseinander.Placeholder image-1Edwards Wandlung zu Guy ist nicht die einzige Metamorphose, die es auf der Berlinale zu sehen gab – auch in anderen Sektionen wurde mit der Veränderbarkeit von Körpern und Wahrnehmungen gespielt. Michael Fetter Nathansky erzählt in Alle die du bist (Panorama) etwa von einer Frau, die die Persönlichkeitsfacetten ihres Mannes distinktiv wahrnimmt. So verwandelt er sich vor ihren Augen mal in ein trotziges Kind, einen aufmüpfigen Teenager, einen verschreckten Bullen oder eine fürsorgliche ältere Frau – nur sobald er in seinem realen Äußeren als Mann wahrnehmbar ist, hat sie tragischerweise nichts mehr für ihn übrig. Ein interessanter visueller Ansatz, der leider nicht vollends den bald ins Ungenaue ausfransenden Film trägt.Das Filmstar-Barometer bei dieser BerlinaleEine synthetisch erzeugte Metamorphose wird hingegen in Rose Glass’ Thriller-Romanze Love Lies Bleeding (Sektion Special) vollführt: Jackie träumt davon, ein Bodybuildingturnier zu gewinnen und setzt neben dem Gewichtestemmen zunehmend auf Steroide. Doch diese verwandeln sie bei emotionaler Erregung in ein unberechenbares Kraftbündel, das ungefragt auf Rachefeldzug für ihre Freundin Lou geht. Als kühnes, queeres Pulp-Movie schlägt Love Lies Bleeding mal grobkörnig dreckige, mal surreale Wege ein und brachte wohltuend grelle Genre-Farbe in dieses Festival – sowie Kristen Stewart auf den Roten Teppich.Eingebetteter MedieninhaltUnd Letzteres ist weiterhin Thema: Wie viel Star-Power schafft die Berlinale im Vergleich mit den konkurrierenden Filmfestspielen von Cannes und Venedig heran? Mit Cillian Murphy, Euphoria-Star Hunter Schafer (Cuckoo) und Gael García Bernal muss sich die Berlinale nicht verstecken, zumal auch die neuen Werke international namhafter Regisseure hier Weltpremiere feiern: Olivier Assayas hatte mit Hors du Temps einen sehr persönlichen, von essayistischen Betrachtungen getragenen Film über die Zeit des Stillstands im Covid-Lockdown dabei. Bruno Dumont präsentierte mit L’Empire eine Alien-Invasion-Geschichte, die die mitunter anstrengenden Sonderbarkeiten seines bisherigen Werks noch übertrumpfte.„La Cocina“: Noch mehr Stress in der Küche als bei „The Bear“Erfreulich ist die Rückkehr des mexikanischen Regisseurs Alonso Ruizpalacios, der vor zehn Jahren sein Spielfilmdebüt Güeros in der Panorama-Reihe vorstellte und dessen außergewöhnliches True-Crime-Drama Museo 2018 einen Silbernen Bären für das beste Drehbuch erhielt. Sein Wettbewerbsfilm La Cocina ist ein rasanter Kraftakt über das gehetzte Treiben eines Restaurants am New Yorker Times Square. Das Stresslevel in der fast ausnahmslos von Migranten besetzten, auf massentaugliche Gerichte setzenden Großküche stellt sogar vergleichbar Atemloses aus der Serie The Bear in den Schatten.Placeholder image-2In der Hitze des chaotischen Küchenbetriebs wird eine fragile Liebesbeziehung ebenso verhandelt wie Diskriminierung und die von bitterer Arbeitsrealität widerlegten Verheißungen des Amerikanischen Traums. La Cocina ist ein pulsierendes, mit intensiven Plansequenzen aufwartendes, vielstimmiges Drama, für dessen mildernde Schwarz-Weiß-Töne man in all dem Trubel sehr dankbar ist. Gemeinsam mit Sterben und A Different Man ein Highlight des diesjährigen Festivals, dessen Filme Wandelbarkeit im Guten wie im Schlechten reflektieren.
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