Weiblichkeit: ARD-Doku erklärt, warum das Jungfernhäutchen ein „Mythos“ ist

Kolumne Unser Kolumnist glaubte bis vor kurzem, beim ersten Mal könnte das weibliche „Jungfernhäutchen“ reißen und zu Blutungen führen. Dann hat er eine Doku geguckt und viel gelernt. Wie konnte sich der „Mythos Jungfernhäutchen“ so lange halten?
Ausgabe 04/2024
Hand auf's Herz: Wussten Sie, was das „Hymen“ ist?
Hand auf's Herz: Wussten Sie, was das „Hymen“ ist?

Foto: Picture Alliance/EPA/Cristobal Herrera-Ulashkevich

Man denkt ja immer, dass man im aufgeklärtesten Zeitalter der Menschheitsgeschichte lebt. So guckt man mit einer gewissen Überheblichkeit auf die Generationen, die lange vor einem diesen Planeten besiedelt haben. Und denkt: Wie wenig die noch wussten! Wie verstellt ihr Blick von Religion und Vorurteilen war! Wir als moderne Menschen hingegen ließen den ganzen mythischen Quatsch hinter uns und haben den wissenschaftlichen Durchblick. Weit gefehlt …

Bis vor Kurzem dachte ich, das „Jungfernhäutchen“ würde die weibliche Scheide verschließen, könnte beim ersten penetrativen Sex reißen und deswegen zu Blutungen führen. Und dann gucke ich eine Doku in der ARD und stelle fest: Alles Unsinn! Zunächst mal bluten sowieso nur 25 Prozent aller Frauen beim ersten Mal. Gut, das ist nichts Neues. Aber mit dem Jungfernhäutchen, das medizinisch korrekt besser Hymen genannt werden sollte, hat das überhaupt nichts zu tun. Dabei handelt es sich um einen Schleimhautkranz, der die Scheide nur umrandet und in dem keine relevante Blutgefäße sind. Rote Flecken auf dem Bettlaken nach dem Sex liegen an Verletzungen der Vulva oder der Vagina.

Diese Vorstellung, dass man anatomisch ablesen kann, ob jemand noch Jungfrau ist oder nicht: Alles Bullshit! Man sieht das Hymen bei jeder Frau. Egal, ob sie schon mit jemandem geschlafen hat oder nicht, gerade Mutter geworden ist oder schon kurz vor der Pensionierung steht.

Die Berliner Gynäkologie-Chefärztin Mandy Mangler spricht im Podcast Gyncast über die weibliche Sexualität und hat dafür 2022 den Berliner Frauenpreis bekommen. In der ARD-Doku erzählt sie, dass an medizinischen Fakultäten noch heute vom Jungfernhäutchen geredet wird.

Als ich das höre, geht es mir ein bisschen besser. Immerhin habe ich nicht Medizin, sondern Politik studiert. Und selbst WENN ich Medizin studiert hätte, wäre ich womöglich auch nicht viel schlauer. Mangler sagt, dass manche Frauen noch heute nicht gynäkologisch untersucht würden, um ihre „Virgo intacta“ zu bewahren – ihre Jungfräulichkeit. „Das muss man mal verinnerlichen: Wir führen eine Untersuchung nicht durch, weil noch kein Penis diese Vagina penetriert hat.“

Aber woher kommt der nicht enden wollende Glaube ans Jungfernhäutchen? Die Anwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ateş erklärt in dem Film, dass die Jungfräulichkeit in keiner der abrahamitischen Religionen eine besondere Rolle in der Heiligen Schrift spiele. Da gehe es mehr um die Ehe und darum, dass der Sex in „geordneten Bahnen“ abläuft. Die Theologie fällt als Erklärung also schon mal weg.

Die feministische Antwort, warum sich der „Mythos Jungfernhäutchen“ so hartnäckig halten konnte, lautet: Er ist ein Machtinstrument, der die Lust der Frauen beschneidet und Sexualität nur aus dem männlichen Blickwinkel betrachtet. Die kapitalistische Antwort geht anders: Durchgeknallte Firmen und Ärzte verdienen viel Geld damit, die weibliche Jungfräulichkeit „wiederherzustellen“. Ein gewisser Dr. Stephan Günther aus Düsseldorf zum Beispiel verlangt 1.600 Euro für eine „Hymenrekonstruktion“. Alles diskret und anonym. Man fällt nur einen Tag bei der Arbeit aus, muss zwei Wochen auf Sport verzichten und sogar die Fäden seien selbstauflösend.

Was tut man nicht alles für die perfekte Hochzeitsnacht. Ernsthaft, kann man so etwas nicht verbieten? Bitte, bitte, Bundesfamilienministerin Lisa Paus, unternehmen Sie doch was!

Dorian Baganz studierte Politik und Geschichte in London, Berlin sowie in Oslo. 2019 war er als Lokalreporter für die Süddeutsche Zeitung im Umland von München tätig. Seit 2022 ist er Redakteur beim Freitag und recherchiert dort vornehmlich zu Klimathemen und sozialen Umbrüchen. Die Kolumne Super Safe Space schreibt er im Wechsel mit Alina Saha, Elsa Koester, Tadzio Müller und Özge İnan.

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Geschrieben von

Dorian Baganz

Redakteur „Politik“, „Wirtschaft“, „Grünes Wissen“

Dorian Baganz, geboren 1993 in Duisburg, studierte Politik und Geschichte in London, Berlin sowie in Oslo. 2019 war er als Lokalreporter für die Süddeutsche Zeitung im Umland von München tätig. Seit 2022 ist er Redakteur beim Freitag und schreibt dort vornehmlich über Klimathemen und soziale Umbrüche. Gemeinsam mit Pepe Egger baute er ab 2022 das Nachhaltigkeitsressort „Grünes Wissen“ auf. Dort veröffentlicht er längere Reportagen, u.a. über geplante Gasbohrungen vor Borkum oder ein Wasserstoffprojekt in der Nordsee.

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