„Mystische Fauna“ von Marica Bodrožić: Blicke, die man nicht vergisst

Poesie Gewalt gegen Tiere, Gewalt unter Menschen: Marica Bodrožić erkundet in „Mystische Fauna. Von der Liebe der Tiere“, wie alles miteinander zusammenhängt – und entdeckt dabei etwas Neues
Ausgabe 47/2023
Was weiß dieser junge Bulle über uns?
Was weiß dieser junge Bulle über uns?

Foto: Pablo Porciuncula Brune/AFP/Getty Images

Was können Tiere von uns Menschen wissen? Und was wissen wir von ihnen? Wie gehen wir miteinander um? Mystische Fauna von Marica Bodrožić ist ein stilles Buch voller bohrender Fragen. Ein, so scheint es, leichthin schwebender Text mit autobiografischer Grundierung, die sich, so man es zulässt, in die eigene Seele einschreibt.

„Das Dorf lag still in der Ebene. Die Kühe hatten mich erwartet, und ich sah nicht nur das, sondern auch, dass sie mich mit ihrem Körper sehr genau wahrnahmen. Sie lasen mich wie ein Buch und reagierten auf jede innere kleine Regung, auch auf jeden Gedanken, der in mir aufstieg … Die Blicke der Tiere zeugten von einer Unverstelltheit, die für mich bis heute das Unzerstörbare ist und nach der ich mich bei allen Begegnungen sehne …“ Als Kind hatte Marica Bodrožić die Kühe auf die Weide getrieben, aber auch zugesehen, wie sie geschlachtet wurden. „Die Blicke der sterbenden Tiere schnürten mir die Kehle zu.“ In diesem Bewusstsein aß sie damals noch Fleisch, was sie heute nicht mehr kann.

Den Rahmen für diesen sehr persönlichen, poetischen Text bildet ein Aufenthalt auf der Insel La Gomera. Zu dem kleinen Feldsteinhaus, das Bodrožić dort hütet, gehört auch ein Hund, den sie Inselito nennt. Bei langen Spaziergängen mit ihm steigen Kindheitserinnerungen in ihr auf. Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr hatte sie auf dem Bauernhof ihres Großvaters in Dalmatien gelebt. Wie ein Fremdkörper fühlte sie sich dort. So suchte sie die Nähe der Tiere und spürte deren Verletzungen in sich. Denn der Großvater konnte jähzornig sein. Dem Hofhund Chio schlug er mit einem Stein ein Auge aus. Und seinen treuen Esel stürzte er in ein Karstloch, nur weil der sich an einer Weinrebe gütlich getan hatte. Mit gebrochenen Gliedern ist das Tier verendet. Und das Mädchen ist sogar noch mitgelaufen, als es zur Hinrichtung geführt wurde, und konnte den Blick des Esels nicht vergessen. Als ob er alles ahnte. Sie war noch klein und wurde zur Komplizin von Gewalt. Und auch mit der Mutter, mit der sie später in Deutschland lebte, war es nicht einfach. Was wohl war ihr angetan worden, was lebte sie bei ihren Zornausbrüchen aus? Der Krieg, zwar kaum thematisiert, hat Spuren hinterlassen.

Das Wort „mystisch“ im Buchtitel steht für eine Welterfahrung, die Marica Bodrožić mit uns teilen möchte, für eine Wahrnehmung, in der alles miteinander verbunden ist. So wird La Gomera zum Ort „sphärischen Lernens“. In der Realität geschieht nicht viel, aber in ihrer Seele dringt die Ich-Erzählerin immer tiefer in ihren „Traumwald“ vor. Sie will aus einer inneren Beklemmung heraus, will die Grenzen des „kühlen Singulars“ hinter sich lassen. Denn „die verflochtenen Beziehungen aller Lebewesen sind nie aus der Welt verschwunden, sie haben nur keinen Platz mehr in unserem Kopf“.

Das rational Erklärbare übersteigen, ohne irrational zu sein: Indem die Dichterin ihr Empfinden durchdenkt und Worte dafür sucht, gelangt sie zu einer Sprache, die man als Geschenk empfindet. Mystische Fauna ist die Geschichte einer Gesundung. Während die Ich-Erzählerin die Schmerzen ihrer Kindheit wieder an sich heranlässt, kommt sie zu sich selbst. Kommt zur Ruhe. Sie wird gewahr, dass nichts ihr mehr etwas anhaben kann, weil in ihr etwas Unauslöschliches lebt. Eine „Innensonne“, die „uns auch im Vergessen mit allem Lebendigen verbindet“.

So steckt in diesem Buch ein großer poetisch-philosophischer Entwurf, in dem auch immer wieder Lektüre-Erfahrungen aufblitzen – vom Gilgamesch-Epos bis zu Heiner Müller, von Else Lasker-Schüler zurück zu Theresa von Ávila und dann wieder zu Walter Benjamin. Eine empathische Erfahrung nimmt die Autorin dann mit in ihr Haus in Mecklenburg. „Ich habe das Bedürfnis, mich mit einem Wald zu verbinden, mich mit dem Moosgrün zu unterhalten, dem überirdischen Blau einer Kornblume, der Nässe des Regens, ich habe das Bedürfnis, mich mit Menschen zu umgeben, die diese Gnade des Eingewobenseins kennen …“ Was sie ihrer kleinen Tochter wünscht – „ein Leben in Sanftmut und Freundlichkeit jenseits von Gewalt“ –, gilt auch im universellen Sinne.

Mystische Fauna. Von der Liebe der Tiere Marica Bodrožić Matthes & Seitz 2023, 163 S., 20 €

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