Staatsgründung mit Schuss: Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich

Rezension „Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“ – bei der Dialektik aber verheddern sie sich: Annett Gröschners, Peggy Mädlers und Wenke Seemanns neues Buch ist dennoch ein großes Vergnügen
Ausgabe 12/2024
Drei ostdeutsche Frauen: Annett Gröschner, Peggy Mädler und Wenke Seemann
Drei ostdeutsche Frauen: Annett Gröschner, Peggy Mädler und Wenke Seemann

Foto: Andreas Rost

In der achten Etage eines Berliner Plattenbaus: Drei Frauen lehnen an der Brüstung des Balkons mit Blick auf den Luisenstädtischen Kanal. Die Frauen sind weder jung noch wirklich alt. Wenke Seemann, Jahrgang 1978 und geboren in Rostock, ist vor zehn Jahren hierhergezogen. Einst ungeliebt, hat die Platte wieder lange Wartelisten für all jene, die keine bezahlbare Wohnung im Zentrum finden. Die weiteren Frauen in dem Trio sind Annett Gröschner, geboren 1964 in Magdeburg, Autorin mehrerer bekannter Bücher, und Peggy Mädler, Regisseurin und ebenfalls Autorin. Sie wurde 1976 in Dresden geboren.

Sie sprechen über die Wohnungen, die sie früher hatten, über ihre Familien, übers Putzen und Rauchen. Dabei wird eine Liste mit all den alkoholischen Getränken, die sie im Laufe ihres Lebens getrunken haben, zusammengestellt. Die erste Flasche Crémant ist da schon leer. Man mag sich und ist bester Laune, ich möchte lesend mit ihnen anstoßen. Auf dem gemeinsamen Plan stehen sieben Nächte, sieben Alkoholsorten und sieben Themen. Der Titel ist großartig: Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat. Mit dem Betrinken klappt es schon mal …

Im Hintergrund des Projekts ist auch die Hoffnung auf Erfolg. Selbstbewusst ostdeutsch – die Bücher von Katja Hoyer und Dirk Oschmann haben „Welle“ gemacht. „Auf der schwimmen wir jetzt mit“, beschließen die drei mit Gelächter und unverbissen. Für einen literarischen Text, der die Anmutung des Mündlichen behält, braucht es einen Plan für die sieben Nächte. Die drei haben sich jeweils Themen vorgenommen, mit der Freiheit, davon abzuweichen. Locker plaudernd und spontan – bei laufendem Aufnahmegerät spricht jede aus ihrer Sicht.

„Findet ihr eigentlich auch, dass die Zuschreibungen an die Ostfrau deutlich attraktiver sind?“, fragt Peggy. „Also, ich möchte kein Ostmann sein (...) Die männliche Arbeiterfigur hatte in der DDR so eine enorme positive Aufwertung erfahren, die natürlich mit der Realität nichts zu tun hatte (…) Heute dagegen liest man für die working class Begriffe wie ‚Prekariat‘, ‚Unterschicht‘. Da schwingt die ganze Deindustrialisierung mit. Und wenn dann Rassismus, Rechtsextremismus dazukommen, bist du ganz schnell bei Bildern von einem (…) Annett: (…) Mob. Wenke: Hässlich, arm, ungebildet. Weiß. Potenzielle oder tatsächliche AfD-Wählerschaft. Bedrohung oder Witzfigur. Das ist ein enormer gesellschaftlicher Sturz, der sich an diesem männlichen Arbeiterkörper festmacht. Da ist es fast egal, ob du Haus und Auto hast und zweimal im Jahr in den Urlaub fährst, es ändert nichts an deiner realen oder empfundenen Position im System.“

Das System BRD wird dabei kaum infrage gestellt. Und was die drei über die DDR wissen, kann vielfach nur angelesen sein. Peggy Mädler und Wenke Seemann sind 1989 noch zur Schule gegangen. Annett Gröschner studierte bis 1991 Germanistik in Berlin, kurzzeitig auch in Paris. Freiberufliche Künstlerinnen – in ihren Freuden und Nöten dürften sie Berufskolleginnen im Westen näher sein als Menschen aus dem Osten, die in anderen Berufen tätig oder in Rente sind.

Wie viel Rente sie mal kriegen, beschäftigt sie natürlich. Annett: „Das ist ja das Fatale, dass Leute wie wir, die kaum Geld haben, sich immer nach oben orientieren. So funktioniert die ganze Gesellschaft. Wir denken, wir gehören nach oben, anstatt zu sagen: Okay, ich bin jetzt solidarisch nach unten.“ Peggy: „In jedem Aufstieg liegt was drin, das dich nicht aufhören lässt. (…) Mit einem Bein stehst du noch in der Erfahrung, nichts zu haben. Mit dem anderen Bein stehst du in der Erfahrung, dass es aufwärts geht. Und im Kopf sitzt die Angst vor neuen Verlusten.“

Freimütige Zustandsbeschreibung des Gegenwärtigen: „Dazwischen“, nicht zugehörig, „immer auf dem Sprung“ sein, so Annett. „Ich möchte zum Beispiel nicht unter DDR oder ostdeutsch subsumiert werden. Der Osten in mir ist zersplittert.“ Woraufhin Wenke erwidert: „Zwischen den Stühlen tanzen ist ja auch nicht schlecht.“ Von diesem Tanzen fühlt man sich mal mitgerissen, mal befremdet. Manchmal erscheint die Leichtigkeit fehl am Platz. Man ist dabei, wie die drei bei Peggys Datsche nördlich von Berlin durch den Wald wandern bis zur ehemaligen FDJ-Jugendhochschule am Bogensee. Peggy: „So, erste Runde Wodka! Wir haben hier drei angebrochene Flaschen. Darf ich euch eine Bulette auftragen? Ein Gäbelchen dazu?“

Wenke präsentiert eine Liste von Begriffen: „Privileg. Utopie. Selbstkritik. Selbstverpflichtung. Emanzipation. Solidarität. Kollektiv. Kapitalismus. Sozialismus. Vielleicht auch noch Demokratie. Fortschritt. Weltfrieden. Völkerfreundschaft.“ Sie hat ein paar alte Konsum-Papiertüten mitgebracht. „Da können wir reintun, was wir von den Begriffen mitnehmen wollen.“ Peggy: „Ich weiß gar nicht, ob ich von den Begriffen überhaupt noch was mitnehmen will. Können wir die Tüten auch fürs Entsorgen verwenden?“ Comedy. Mein Problem: Ich hatte Tiefgründigeres erwartet. Das war wohl nicht angestrebt. Mach dich locker, sage ich zu mir. Ist doch amüsant beschrieben, wie sich die drei, nicht mehr nüchtern, zurück zur Datschensiedlung tasten. Im dunklen Wald ein Rascheln. Wenke weiß, gegen Wildschweine hilft nur, selber laut zu sein. „HOCH DIE INTERNATIONALE SOLIDARITÄT“, ruft Annett in Appellplatz-Lautstärke. Am nächsten Morgen sehen wir sie Gummitwist hüpfen. Während sie den Begriff Dialektik klären wollen, müssen sie sich wohl verheddern.

Wie ist es denn nun mit dem „idealen Staat“? Natürlich wissen sie nicht, wie der sein sollte und praktische Schritte dorthin liegen im Nebel. Da vertiefen sie sich in das Nachdenken über Christa T. von Christa Wolf und fragen ein paar Freunde und Bekannte nach deren Meinung. „Eigentlich möchte ich immer noch Weltbürgerin sein“, meint Annett, und Peggy hat schon einen Titel fürs nächste Buch parat: „Drei ostdeutsche Frauen essen Bratwurst in der Provinz“.

Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat Annett Gröschner, Peggy Mädler, Wenke Seemann Hanser Verlag 2024, 320 S., 22 €

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