Reformierung oder Abschaffung? Teil 2

Polizei In den Diskussionen über Polizeigewalt und Rassismus hilft es nicht, zu betonen, es gäbe bloß einige "schwarze Schafe". Wir müssen die Institution radikal kritisieren.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Drohende Gefahr
Drohende Gefahr

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Im ersten Teil meiner Kritik der Polizei reflektierte ich Sinn und Zweck der Polizei, für und gegen wen sie eintritt und wie die Logik sozialer Kontrolle funktioniert. Nun, im zweiten Teil erläutere ich die Logik der Gefährdungsbeurteilung sowie die institutionelle Hervorbringung von Ausschlüssen und Diskriminierung, kritisiere den Fehlschluss der Erzählung von „guten“ und „schlechten“ Polizist*innen, und skizziere, warum die Polizei abgeschafft werden muss und warum Staat und Kapitalismus das eigentliche Problem sind.

Die Polizei als Ganzes zu kritisieren (und somit Rassismus als institutionell und nicht als abweichendes Verhalten zu erkennen) funktioniert in etwa so wie den institutionellen Charakter des Kindesmissbrauchs in der katholischen Kirche zu benennen: Katholische Kirche und Polizei reden gleichermaßen gerne von schwarzen Schafen. Aber sind nicht gerade diejenigen die schwarzen Schafe, die sich der institutionellen Logik nicht ergeben? Denn wir wissen doch, dass der Priester ein Problem darstellt, der die inneren Missstände öffentlich macht; dass der Polizist ein Problem darstellt, der innerpolizeiliche rechte Netzwerke öffentlich macht und den verbreiteten Hang zu menschenverachtenden Gewaltphantasien kritisiert. Es gibt keine Solidarität mit den Opfern, nur mit den Tätern – denn jeder mache doch mal Fehler, erklären Polizeipräsidenten und Kardinäle gleichermaßen. Wir wissen doch eigentlich: Die Logik der Institution verführt den Priester zur Pädophilie, zum Missbrauch; die Logik der Institution lässt Polizist*innen rassistisch und diskriminierend handeln. Um das ein wenig greifbarer zu machen, möchte ich ein paar Anmerkungen zur polizeilichen Gefährdungsbeurteilung anschließen.

Sicherheit und Gefährdungsbeurteilung

Polizeiliches Handeln basiert wesentlich auf hypothetischen Annahmen, auf „Fiktionen“, „einer vorgestellten Wirklichkeit“i. Eine Manifestierung dessen sehen wir beispielsweise im bayerischen Polizeiaufgabengesetz im Begriff der „drohenden Gefahr“. Eine drohende Gefahr stellt eine abstrakte Gefährdung dar: Personen können

„wegen noch nicht begangener und vielleicht überhaupt nicht beabsichtigter Straftaten vorbeugend ihrer Handlungsfähigkeit beraubt werden. Das schleift den Unterschied zwischen Personen, denen eine konkrete Straftat vorgeworfen wird, und solchen, denen man einen derartigen Vorwurf zwar im Moment nicht machen kann, von denen man aber glaubt, sie könnten vielleicht doch eine Straftat begangen haben, wenn man eingehender ermittelt, oder in Zukunft noch begehen, und es ersetzt tatsächliche Straftaten durch die polizeiliche Imagination von Straftaten.“ii

Ich möchte weiter zitieren: „Die Unschuldsvermutung, bisher ein tragender rechtsstaatlicher Pfeiler, wird damit durch eine generalisierte Verdachtsvermutung ersetzt.“iii Das, was wir als polizeiliche Imagination begreifen, wird innerinstitutionell als polizeiliche Objektivität begriffen. Diese Objektivität speist sich vor allem aus der abstrakten Erfahrung der einzelnen Polizist*innen. Die Gefährdungsbeurteilung ist wohl das Schlüsselelement zum Verständnis polizeilicher Logik.

In den Debatten über den Umgang mit islamistischem Terrorismus wird in Deutschland seit einigen Jahren verstärkt von „Gefährdern“ gesprochen. Nicht erst seit dem Anschlag Ende 2016 am Berliner Breitscheidplatz werden härteres Vorgehen und mehr Befugnisse gegen sogenannte Gefährder (ja, diesen Begriff gibt es polizeisprachlich nur in männlicher Form) gefordert. Das Konzept des Gefährders stellt keinen Rechtsbegriff dar, die „Einstufung beruht lediglich auf Annahmen der Sicherheitsbehörden“iv. Die bundeseinheitliche, polizeifachliche Definition lautet wie folgt: „Gefährder ist eine Person, zu der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung, insbesondere solche im Sinne des § 100a StPO (Strafprozessordnung), begehen wird“v. 2004 legte eine Arbeitsgemeinschaft der Leiter des BKA und der Landeskriminalämter (LKA) diesen Begriff fest; gesetzlich verankert ist er nicht. Es handelt sich also um Personen, gegen die juristisch gesehen nichts vorliegt, keine Beweise, die eine Anklage oder Verurteilung nach sich ziehen könnten; anders gesagt: es handelt sich um Unschuldige.

Die Einstufung von Personen als Gefährder erfolgt als Einschätzung durch die Kriminalpolizei (LKA, lokale Behörden) – als Wahrscheinlichkeitsannahme, die konkretes Handeln nach sich zieht. LKA und BKA quantifizieren diese Wahrscheinlichkeitsannahmen in veröffentlichten Statistiken, die als Argumentationsgrundlage für politisches Handeln dienen. Diese Statistiken dienen wiederum als neue Grundlage der Gefährder-Einstufung: Sie geben in der inneren Logik des Gefährder-Konzepts Aufschluss darüber, welche Faktoren es wahrscheinlicher machen, dass eine Person potentiell straffällig wird. Und so werden bestimmte Gefährdertypen kontinuierlich reproduziert. Gefährder sind „Konstrukte, die als Summe gefährdender Faktoren und Merkmale entstanden sind. Es handelt sich um die Materialisierung einer Verflechtung multipler gefährdender ‚Risikofaktoren‘“vi.

Der Einstufung geht eine Definition und Unterscheidung von Norm und Abweichung (im Sinne sozialer Kontrolle) voraus. Denn wenn Kriterien aufgestellt werden, die es wahrscheinlicher machen, dass eine Person bestimmte Straftaten begeht, muss eine Norm gelten, deren Abweichung Gefahrenpotential in sich birgt. Folglich wird ein bestimmtes Raster erstellt: Wenn eine Person die Merkmale a, b und c aufweist, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie d tun wird, weil in der Vergangenheit ein bestimmter Anteil der Personen, die d getan haben, die Merkmale a, b und c aufwiesen. Nach dieser Logik funktioniert Gefährdungsbeurteilung insgesamt, so dass jeder Mensch, der draußen herumläuft, potentiell verdächtig ist und gerastert werden muss. Um ein relativ hohes Maß an Sicherheit für mich (und zwar Sicherheit vor der Polizei) empfinden zu können, muss ich mir sicher sein, dass die Polizei mir eine Identität zuschreibt, die potentiell ungefährlich ist. Dunkle Hautfarbe, männlich kodiert, jung bedeutet: potentiell gefährlich. Das ist ein Grundraster, aber wahrlich nur eines von vielen. Wir alle haben die Polizei zu fürchten, da hilft auch keine Reform.

Gute und schlechte Polizisten? Emanzipation durch Zerstörung

Die Polizei zu reformieren ist ein Gedanke, der an deutsche Traditionen anknüpft: Die Reformation und Martin Luther als Sternstunde bzw. Held deutscher Geschichte. Was brachte die Reformation? Karl Marx fasste es gut zusammen:

Luther hat [...] die Knechtschaft aus Devotion besiegt, weil er die Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat. Er hat den Glauben an die Autorität gebrochen, weil er die Autorität des Glaubens restauriert hat. […] Er hat den Leib von der Kette emanzipiert, weil er das Herz in Ketten gelegt.“vii

Anders gesagt: Luther hat die Ideologisierung, die Verschleierung von Herrschaft und Unterdrückung perfektioniert. Eine Reform der Polizei soll ähnliches bewirken: Wir sollen keine Angst haben, sondern Zutrauen haben zu denen, die unseren Gehorsam und unsere Disziplin überwachen. Wir sollen die Ordnungsinstanz des Staates als unsere innere Ordnungsinstanz verstehen, wir sollen davon überzeugt sein, dass die Polizei richtig handelt und den richtigen Blick hat. Wir sollen die Polizei blind als Freund und Helfer annehmen.

Die Kritik, es gäbe (zu viele) schwarze Schafe in der Polizei, verfehlt das Problem. Diese Kritik sagt, die Polizei müsse reformiert werden, die bestehende Institution müsse quasi ihr Bewusstsein ändern und wäre dann Freund und Helfer; dann gäbe es keine schlechten, nur noch gute Polizisten. Demnach sei die Gesellschaft als solche schon daraufhin angelegt, jedem Menschen ein gleichermaßen sicheres und freies Leben zuzugestehen. Ein paar Ausreißer würden bloß – nun ja – Image-Probleme verursachen. Diese Einschätzung ist zutiefst konservativ. Denn wir haben es mit innerinstitutioneller Logik zu tun, nicht mit gnadenloser Kontingenz, nach der es halt überall Arschlöcher und Rassisten gibt, so auch bei der Polizei. Nein, hier müssen wir uns den berühmten Satz von Karl Marx und Friedrich Engels aus der Deutschen Ideologie vergegenwärtigen: „Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein.“

So können wir verstehen, dass das Bewusstsein der Polizist*innen eben das spezifische Bewusstsein der Polizei ist, das nicht einfach dem „lebendigen Individuum“ entspringt und das Sein der Polizist*innen formt.viii Die Erklärung der schwarzen Schafe geht vom Bewusstsein aus. Aber das Sein der Polizei als Polizei formt das Bewusstsein der Polizei und stellt das Problem dar.

Woraus ergibt sich dieses Bewusstsein? So unerträglich es auch sein mag, sich das einzugestehen: wir leben in vielfältig und umfangreich hierarchischen Gesellschaften, in denen es Herrschende und Beherrschte gibt. Wer „die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht“ und formuliert die „herrschenden Gedanken“. Und die „herrschenden Gedanken sind weiter nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefaßten herrschenden materiellen Verhältnisse“.ix Es sind also die gesellschaftlichen Verhältnisse, die das Bewusstsein der Polizei im Ursprung prägen. Denn als exekutive Ordnungsinstanz des Staates ist ihre oberste Aufgabe die Verteidigung dieser gesellschaftlichen Verhältnisse. Wie der Mensch „das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“x ist, so sind Polizist*innen das ensemble der gesellschaftlichen und polizeilichen Verhältnisse.

Es gibt so viele Menschen, die massiv und alltäglich unter der Polizei leiden, die per se verdächtig sind. Daher gilt, wie Marx und Engels es sagen,

„daß also die Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andre Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden.“xi

Die Auflösung der Polizei ist der einzige Weg, wenn wir es ernst meinen mit dem Ende von Ausgrenzung und der permanenten Reproduktion von Ungleichheiten: Die unterdrückten, diskriminierten Gesellschaftsteile können ihren Status der Marginalisierung und Exklusion nur aufheben, wenn Staat und Polizei als ihre Bedingungen aufgehoben sind (also die Institutionen, die auch das Privateigentum verteidigen). Befreiung gibt es nur unter der Voraussetzung der Zerstörung. Und das betrifft uns alle, dieses Interesse müssen wir alle gemeinsam haben.

Neuorganisierung

Die Abschaffung der Polizei ist vielleicht eine Utopie, aber die einzig aussichtsreiche. Die illusorische Utopie ist es, „die Pfeiler des Hauses“ stehenzulassen, die Polizei als solche beizubehalten, um in ihr einige Schrauben neu zu justieren, sie also zu reformieren. Aber mit der Polizei muss die bürgerliche Gesellschaft, muss der Staat abgeschafft werden, muss also die Schutzmacht des Kapitalismus und damit der Kapitalismus abgeschafft werden – wenn wir denn etwas von „allgemein menschliche[r] Emanzipation“xii halten.

Die Kritik der Polizei muss in etwa so enden, wie für Marx die Kritik der Religion enden muss, nämlich damit, dass das, was an der Religion zu kritisieren ist, in den gesellschaftlichen Verhältnissen begründet ist, oder simpler „mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“.xiii Nicht die Religion unterwirft den Menschen, sondern die gesellschaftlichen Strukturen, nicht einzelne Polizist*innen erniedrigen den Menschen, sondern die Polizei als das, was sie ist. Nein, der kapitalistische Staat erniedrigt und unterwirft den Menschen.

Meinen wir es ernst mit Emanzipation, also mit der Befreiung des Menschen aus der Abhängigkeit? Dann müssen wir am Staat und seinen Institutionen rütteln, sie einreißen, um auf den Ruinen die befreite Gesellschaft zu errichten. Soll im gemeinschaftlichen Zusammenleben Sicherheit organisiert werden, muss sie alle umfassen. Wir müssen den gesamten menschlichen Lebenszusammenhang neuorganisieren! Oder wir machen weiter wie bisher und stufen Ausführungen wie ich sie in den vorangegangenen Abschnitten gemacht habe als zu extrem oder gefährlich ein, erkennen nicht, dass es hier um demokratische Emanzipation geht. Dann ändert sich aber auch nichts. Und vergessen wir nicht: Dann ändert sich auch nichts in Sachen Klimaschutz, Gesundheitssystem, Migrationspolitik, Sozialpolitik und so weiter. Alles hat mit allem zu tun.

i Kretschmann, Andrea/Legnaro, Aldo (2019): Abstrakte Gefährdungslagen. Zum Kontext der neuen Polizeigesetze, in: APuZ 69(21-23), S. 11-17, hier S. 12.

ii Ebd., S. 13.

iii Ebd., S. 16.

iv Deutscher Bundestag (2017): Drucksache 18/11369. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Martina Renner, Dr. André Hahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Drucksache 18/11064 Gefährder in Deutschland, http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/18/113/1811369.pdf, S. 1.

v Ebd., S. 2.

vi Böhm, Maria Laura (2011): Der ‚Gefährder‘ und das ‚Gefährdungsrecht‘, Göttinger Studien zu den Kriminalwissenschaften Bd. 15, Göttingen, S. 230.

vii Marx, Karl (1843/44): Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Band 1, 3. Aufl., Berlin 1972, S. 9-25, hier S. 18.

viiiMarx, Karl/Engels, Friedrich (1845/46): Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie (Auszug), in: Karl Marx/Friedrich Engels: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Band 1, 3. Aufl., Berlin 1972, S. 201-277, hier S. 213.

ix Ebd., S. 238.

x Marx, Karl (1845): Thesen über Feuerbach, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Band I, 3. Aufl., Berlin 1972, S. 196-200, hier S. 199.

xiMarx/Engels: Die deutsche Ideologie, a. a. O., S. 231.

xii Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, a. a. O., S. 21.

xiii Ebd., S. 18.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Julius Wolf

Über Politik, Gesellschaft, Emanzipation und Antiemanzipatorisches.

Julius Wolf

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden