„Deutschlandmärchen“ am Gorki: Eine Hommage an alle Gastarbeitermütter

Bühne So schön können Tränen fließen: Das Gorki Theater in Berlin adaptiert Dinçer Güçyeters „Unser Deutschlandmärchen“. Eine der Hauptrollen in Regisseur Hakan Savaş Micans Stück spielt die Musik
Ausgabe 15/2024
Sesede Terziyan und Taner Şahintürk
Sesede Terziyan und Taner Şahintürk

Foto: Ute Langkafel/Maifoto

Vor drei Jahren stellte im Freitag der Dichter Alexandru Bulucz den Dichterkollegen Dinçer Güçyeter vor. Als schillernden Typen, eine Mixtur aus Bodenständigkeit und Boheme. Sohn türkischer Gastarbeiter. Jahrgang 1979. Schwer beschäftigt als unverbesserlich optimistischer Betreiber eines kleinen Verlages für Lyrik im Heimatort Nettetal. Gabelstaplerfahrer in Teilzeit. Durch und durch Familienmensch.

Mit den Posts aus seinem Leben in den sozialen Medien war Güçyeter zu Bekanntheit gelangt, waren Verlage aufmerksam geworden. Plötzlich dann der Durchbruch, (für den Autor waren da freilich fast 25 Jahre vergangen), Güyçeter erhielt 2023 den Preis der Leipziger Buchmesse für Unser Deutschlandmärchen, ein Buch, das von alledem erzählte. Vom Aufwachsen in der Kneipe des Vaters, die mehr Biotop für Nichtsnutze war statt Einnahmequelle, vom Aufwachsen unter der Fuchtel der Mutter, die tagein, tagaus schuftete, neben der Fabrik noch auf Erdbeer- und Spargelfeldern. Von Konflikten, Versöhnung, Queerness. Von Besuchen bei Verwandten in Anatolien, wo die Mutter den Sohn einmal ohrfeigt, weil er mit einer Kuh trauert. Von Mölln, Solingen. Güçyeters Buch ist keine Anklage, vielmehr ein nahegehender Entwicklungsroman, aber vor allem eine wunderbare Hommage an seine Mutter Fatma Güçyeter.

Schon beim Lesen des Buches mit diesem unbekümmert pathosgeladenen Sound, das mit seinen Chören auch etwas von einem Bühnenstück hat, waren schließlich Tränen geflossen. Diese Theaterpremiere oder vielmehr dieses Musiktheater öffnete die nächste Schleuse. Nicht erst am Ende, als der ebenso gerührte Autor unter tosendem Applaus zusammen mit seinen Kindern und der 76-jährigen Mutter auf die Bühne gerufen wird (die dem Publikum schüchtern zuwinkt), sondern weil Regisseur Hakan Savaş Mican der Musik eine Hauptrolle gegeben hatte. Weil sie im Buch eine große Rolle spielt und ja überhaupt in der türkischen Kultur von allerhöchster Bedeutung ist. Der Gesang von Sesede Terziyan als Fatma und Taner Şahintürk als Dinçer: berauschend, kraftvoll, zu Tränen rührend. Zum Beispiel, wenn Terziyan ein Lied der türkischen Pop-Ikone Sezen Aksu singt (im Programmheft ist eine „Playlist“).

„Es waren die Achtziger“, schreibt Güçyeter in Unser Deutschlandmärchen, „wo das Pathos Gott spielte (...) Unendliche Sehnsüchte, nichtheilende Wunden, Fremde, Blut, Hass, Intrige. Shakespeare hätte da nicht mithalten könnten.“ Aber, wichtig, der Regisseur verzettelt sich nicht im Pathos, witzig wird es auch.

Der Glaube „an ein sorgenfreies Leben war besonders in deiner Generation sehr ausgeprägt“, heißt es einmal im Buch, weshalb Fatma das gute Geschirr zwar containerweise kaufte, jedoch nie benutzte. Mit der Musik träumte sie sich in ein kommendes Leben, setzte alle Hoffnung in den Sohn. Für den Sohn wurde sie Inspiration für sein Schreiben. Übrigens, es wird auch Herbert Grönemeyer geschmettert und mutig, ohne falsche Rücksichtnahme, von einem Patriarchat türkischer Couleur erzählt, das in Deutschland weiterlebt, zulasten der Frauen (und den Söhnen, die es ablehnen).

Fünf Musiker, unter anderem an der E-Oud und an der „türkischen Gitarre“, der Saz, begleiten Mutter und Sohn. Eine schlüpft einmal in die Rolle der jungen Fatma, als man ihre Heirat beschließt. Ein sehr schlichter, wirkungsvoller Regieeinfall. Die Bühne von Alissa Kolbusch ist schlicht, manchmal werden alte Fotos an die Wände projiziert. Am Ende des Abends sagt Intendantin Shermin Langhoff, dass dieses Stück allen Gastarbeiterfrauen gewidmet sei, auch ihrer Mutter. Es sollte landauf, landab gespielt werden.

Unser Deutschlandmärchen Text: nach Dinçer Güçyeter, Regie: Hakan Savaş Mican Maxim Gorki Theater, Berlin

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Geschrieben von

Katharina Schmitz

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Literatur“

Katharina Schmitz studierte Neuere Geschichte, Osteuropäische Geschichte, Politikwissenschaften, Vergleichende Literaturwissenschaften und kurz auch Germanistik und Romanistik in Bonn. Sie volontierte beim Kölner Drittsendeanbieter center tv und arbeitete hier für diverse TV-Politikformate. Es folgte ein Abstecher in die politische Kommunikation und in eine Berliner Unternehmensberatung als Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Ab 2010 arbeitete sie als freie Autorin für Zeit Online, Brigitte, Berliner Zeitung und den Freitag. Ihre Kolumne „Die Helikoptermutter“ erschien bis 2019 monatlich beim Freitag. Seit 2017 ist sie hier feste Kulturredakteurin mit Schwerpunkt Literatur und Gesellschaft.

Katharina Schmitz

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