Das eigentliche Drama in Italien ist die zersplitterte Linke

Italien Nur die Rechtsparteien haben sich vor der Wahl am 25. September zu einer schlagkräftigen Allianz vereint. Mit Giorgia Meloni könnte erstmals seit 1945 eine Postfaschistin in Rom an die Macht kommen. Wie konnte es so weit kommen?
Ausgabe 38/2022
Was würde das Mitte-links-Lager „nur ohne mich machen?“, fragt Giorgia Meloni
Was würde das Mitte-links-Lager „nur ohne mich machen?“, fragt Giorgia Meloni

Foto: Riccardo Fabi/Imago Images

Eine Mischung aus Ungläubigkeit, Angst und Ohnmacht stellt sich ein, kreisen meine Gedanken um die Parlamentswahl kommenden Sonntag. Wie ein Kaninchen vor der Schlange fühle ich mich. Um sich in Italien momentan mit Politik zu beschäftigen, braucht es den Mut der Verzweiflung und einigen Humor, doch der fehlt mir im Augenblick.

„Ich bin Giorgia, ich bin eine Frau, ich bin eine Mutter, ich bin Italienerin, ich bin Christin, niemand kann mir das nehmen!“ – „Ja zur natürlichen Familie, nein zur LGBT-Lobby, ja zur Souveränität der Völker, nein zu den europäischen Bürokraten, ja zu unserer Zivilisation, nein zu ihren Zerstörern!“ – Giorgia Meloni ruft, nein, sie röhrt ihre Botschaften über die Plätze. Bei jedem Satz schlägt sie sich auf die Brust und löst Begeisterungsstürme aus, wie schon im Sommer 2021 bei den Anhängern der ultrarechten Vox-Partei in Madrid. Vor den Wahlen im eigenen Land fährt sie wie eine Dompteurin dazwischen, wenn das Publikum zu johlen anfängt, und fordert es zur Ruhe auf. Im Subtext schwingt mit: „Jetzt nicht, jetzt heißt es, sich zurückzuhalten!“ Mich erinnert das unwillkürlich an eine Geste Donald Trumps, der während seiner Wahlkampfauftritte verschwörerisch den Zeigefinger auf den geschlossenen Mund legte, um zu kommunizieren: „Sagen wir ihnen nicht, was wir vorhaben, wie stark wir sind und dass wir siegen werden.“

Melonis Mission ist es, „unsere Identität, die Kultur der italienischen christlichen Familien, der Patrioten“ gegen die Bedrohung durch die Linke, „die Migranten“ und die LGBT-Front zu verteidigen. Und das ohne Kompromisse. Der erste und damit zentrale Punkt des Wahlprogramms ihrer Partei, der Fratelli d’Italia (Brüder Italiens), ist der „Steigerung der Geburtenrate und Unterstützung der traditionellen Familie“ gewidmet. Papst Johannes Paul II. wird zitiert, was auf die heimatlosen Wähler der einstigen christdemokratischen Volkspartei Democrazia Cristiana zielt.

Georgia Meloni nutzt gekonnt die schwächelnde Linke

Meloni steuert geschickt wie eine Slalomläuferin durch den Wahlkampf. Einerseits stimmten Lega und Fratelli d’Italia im EU-Parlament gegen die mit großer Mehrheit verabschiedete Erklärung, mit der Ungarn die Demokratiefähigkeit abgesprochen wurde, andererseits tritt Meloni „als Europäerin“ mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit, um zu versichern, ihre Partei „habe den Faschismus der Geschichte übergeben“. Das Wort „Antifaschismus“ bringt sie freilich nicht über die Lippen. Liliana Segre, die alte jüdische Dame im Senat, eine KZ-Überlebende, kann sie nicht überzeugen. Giorgia Meloni, so Segre, solle erst einmal die Flamme aus dem Parteiwappen entfernen, das Symbol der ehemaligen neofaschistischen Partei Alleanza Nazionale, der sie lange angehört hat.

Die Fratelli d’Italia waren die einzige Partei, die zur Koalition der nationalen Einheit von Premierminister Mario Draghi in Opposition stand, was ihr bei den Zustimmungswerten in kurzer Zeit einen Anstieg von 4 auf 20 Prozent brachte. Die „Brüder“ brauchten nur die Schürze aufzuhalten, um die vielen Stimmen der Unzufriedenen einzusammeln, die zuvor Lega oder Movimento 5 Stelle, die Fünf-Sterne-Bewegung, gewählt hatten.

Allen Rivalitäten zum Trotz haben die Fratelli, Forza Italia und Lega ein Rechtsbündnis geschmiedet und werden – so kein Wunder geschieht – diese Abstimmung gewinnen. Genau 100 Jahre nach Benito Mussolinis Marsch auf Rom könnte erstmals nach 1945 eine postfaschistische Partei die italienische Regierung anführen. Dabei steht hinter der Fassade des „Neuen“, hinter der Frontfrau Meloni, eine alte, nur allzu bekannte und teils korrupte Politikerriege bereit, von Matteo Salvini bis zum mumienhaft wirkenden Silvio Berlusconi.

Das eigentliche Drama dieser Wahl jedoch ist nicht die Rechtsfront, sondern die desolate Verfassung des Mitte-links-Lagers. Die Wahlstrategie des Partito Democratico (PD) Enrico Lettas, die auf Abwehr der rechten Gefahr und Kontinuität mit der „Agenda Draghi“ setzt, scheint nicht aufzugehen. Meloni kontert, sie habe das Parteiprogramm des PD gelesen und dort ihren Namen gefunden: „Was würden sie ohne mich machen? Wenn ich nicht hier wäre, welche Politik würden sie verfolgen?“ Das enthält einen Funken Wahrheit. Die gemäßigten bis linken Parteien, die Fünf-Sterne-Bewegung, die liberalen Anhänger Draghis, kleinere Linksgruppierungen und die Grüne Partei haben nicht nur keine Allianz geschaffen, sondern führen eine Mischung aus Trauerspiel und Kaspertheater auf: sich gegenseitig auf die Mütze hauen und Versagen vorwerfen. Es ist niemand in Sicht, der auf dieser Seite die Kräfte bündeln und eine überzeugende Alternative anbieten könnte. Es bleibt nur die Hoffnung, dass in der Opposition Zeit sein wird, einmal den Jüngeren zuzuhören, die gerade zu einem großen Klimastreik aufgerufen haben. Es wäre darüber hinaus der Frage nachzugehen, die Didier Eribon schon in Frankreich aufgeworfen hat: wie es kommen kann, dass viele von deren, die über Generationen der größten kommunistischen Partei Westeuropas verbunden waren, nun rechts und rechtsextrem wählen und dies teilweise gar als „natürliche Wahl“ empfinden. „Was war geschehen“, so Eribon, „dass nun so viele Front National wählten, der zuvor intuitiv als Klassenfeind betrachtet wurde?“

Kirsten Düsberg ist Soziologin und lebt in Udine, Region Friaul-Julisch Venetien

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