Geleakte US-Geheimpapiere: Offene Geheimnisse

Meinung Was die geleakten US-Dokumente ungewöhnlich macht: Die Öffentlichkeit erfährt in Echtzeit von internen Überlegungen zu einem laufenden Krieg. Trotzdem hält Freitag-Autor Konrad Ege die Aufregung über das Leak für überzogen
Ausgabe 16/2023
Spätestens seit den geleakten Dokumenten kennt die Öffentlichkeit Amerikas Rolle im Krieg in der Ukraine
Spätestens seit den geleakten Dokumenten kennt die Öffentlichkeit Amerikas Rolle im Krieg in der Ukraine

Foto: Aris Messinis/AFP via Getty Images

Bei den ins Netz gestellten, von internationalen Medien analysierten US-Geheimdokumenten zur Ukraine drängt sich die Frage auf, ob manche der „brisanten Informationen“ wirklich überraschen. Zum Beispiel, dass US-Dienste im Namen des Ukraine-Beistandes andere Nationen und UN-Generalsekretär António Guterres ausspioniert haben. Geheimdienste tun das.

Die Papiere liefern Details vom Krieg in der Ukraine, beschreiben verheerende Verluste auf beiden Seiten und lassen Vorsicht walten, wenn es um den zu erwartenden Ausgang geht. Das steht im Kontrast zu hoffnungsvollen politischen Prognosen und ukrainischen Parolen von einem „Jahr des Sieges“. Ein Geheimpapier, zitiert von der Washington Post, warnt vor der Wahrscheinlichkeit, dass die ukrainische Frühjahrsoffensive wohl nur „bescheidene territoriale Gewinne“ bringe, und der Sender CNN zitiert ein Dokument, wonach der Abnutzungskrieg im Donbass vermutlich in einem Patt enden werde.

Wem die Enthüllungen schaden oder nutzen, lässt sich kaum beurteilen. Manche US-Analysten haben Besorgnis geäußert, Russland könne anhand der Dokumente Erkenntnisse gewinnen zu den Kapazitäten von US-Diensten, zu deren Quellen und Methoden. In einer zusammenfassenden Analyse meint die New York Times, die Papiere offenbarten, wie tief die USA involviert seien bei der Kriegsführung; Washington liefere Kiew „präzise Daten und Logistik, mit denen sich die bisherigen Erfolge der Ukraine erklären“ ließen. Russische Führungskräfte dürften freilich auch ohne die geleakten Dokumente auf die Idee gekommen sein, dass ihre Misserfolge etwas mit US-Aufklärung, mit nachrichtendienstlicher Hilfe von CIA und NSA zu tun haben. Was die neuen Dokumente ungewöhnlich macht: Die internationale Öffentlichkeit erfährt in Echtzeit von internen Überlegungen zu einem laufenden Krieg. Normalerweise kommt das viel später heraus. So haben als „Pentagon Papers“ bekannte Geheimdokumente erst 1971 wissen lassen, wie relevante US-Politiker über den Vietnamkrieg in den 1950er und 1960er Jahren dachten.

Leaks sind peinlich für Regierungen, wenn sich interne Einsichten nicht mit den offiziellen Aussagen decken. John Kirby, für Sicherheitsinformationen zuständiger Sprecher des Weißen Hauses, mahnte denn auch bei einer Pressekonferenz, die Dokumente zur Ukraine sollten „nicht auf den Titelseiten der Zeitungen und im Fernsehen erscheinen“.

Besonders peinlich sind die mangelhaften Sicherheitsvorkehrungen, die es dem festgenommenen 21-jährigen Militärmitarbeiter erlaubt haben sollen, zahlreiche Dokumente zu kopieren und in einer Chatgruppe zu posten, um seine Freunde zu beeindrucken. Den US-Staat beherrscht zwar ein wahrer Geheimnisfetischismus, doch dürfen Millionen Regierungsbedienstete und Vertragsarbeiter Geheimes lesen. Die zu erwartenden Konsequenzen nach den neuesten Enthüllungen: Sicherheitsbehörden geloben, bessere Schutzvorkehrungen zu treffen, bei der Debatte zur Ukraine-Politik können Gegner und Befürworter das Material nutzen. Kritiker fühlen sich in der Annahme bestätigt, dass Joe Biden seinen Kurs der Unterstützung bis zum Ende durchdenken muss. Zugleich werden Stimmen laut, die darauf verweisen, dass in den Dokumenten ukrainische Schwierigkeiten benannt würden. Man müsse daher mehr Waffen und Munition liefern. Das Thema Ukraine ist Glaubenssache.

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