Oscars: Warum die Auszeichnung für Billie Eilishs Lied zu „Barbie“ sehr verdient ist

Musiktagebuch Billie Eilishs „What Was I Made For?“ handelt von nichts Geringerem als der existenziellen Krise des Subjekts im Kapitalismus. Dafür erhielt sie mit 22 Jahren schon den zweiten Oscar. Vollkommen zurecht, findet unser Kolumnist
Ausgabe 11/2024
Ist vor lauter Oscars kaum noch zu sehen: Billie Eilish und ihr Bruder Finneas O'Connell
Ist vor lauter Oscars kaum noch zu sehen: Billie Eilish und ihr Bruder Finneas O'Connell

Wer seine Nase einmal zu tief in geisteswissenschaftliche Bücher gesteckt hat, der kriegt sie da nie wieder richtig heraus. Vielmehr klebt einem mal dieses, mal jenes Kapitel vor dem Gesicht, sodass man die Welt manchmal nur durch Seiten hindurch erlebt. Vor diesem Hintergrund kann ich Ihnen, liebe Leser*innen, gar nicht genau sagen, welche dieser beiden Thesen stimmen mag: Leben wir zurzeit in einer Ära voller guter Musik, kluger Bücher und überragender Filme? Oder ist es vielmehr so, dass der Autor dieser Kolumne zur werberelevanten Zielgruppe gehört, obendrein fürs Meinen bezahlt wird, und daher viele Neuerscheinungen überraschend genau auf ihn zugeschnitten worden sind?

Der Erfolg des Films Barbie jedenfalls ließe sich gut mit der zweiten These erklären. Es ist eine bestimmte Alterskohorte, die sich an die Omnipräsenz einer oft blonden Puppe in vielen Kinderzimmern erinnern kann; es zielt auch auf eine bestimmte Generation von Zuschauer*innen, gerade dieses plastikgewordene Sinnbild für westliche Schönheitsnormen zum Anlass für eine feministische Pop-Persiflage zu nehmen. Acht Oscar-Nominierungen konnte der Film für sich verzeichnen, die güldene Statuette erhielt er letztlich aber nur einmal – und zwar für etwas, das auf der Leinwand gar nicht zu sehen, sondern zu hören war.

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Billie Eilish macht den Stars die Augen wässrig

What Was I Made For? heißt die Ballade, die Songwriterin Billie Eilish zusammen mit ihrem Bruder Finneas O’Connell für den Film geschrieben hat. Bevor beide den Oscar für den „Best Song“ in Empfang nahmen, spielten sie das Stück vor einem sanftrosa-reduzierten Bühnenbild auf der Preisverleihung, anfangs mit Klavierbegleitung, später unterstützt von einem Orchester.

Die Kameras zeigten etliche wässrige Augen: Die 22-jährige Eilish rührte mit ihrer Stimme den halben Saal, gefüllt mit einigen der weltbesten Figuren der internationalen Kreativwirtschaft – und gewann schließlich die Trophäe. Und das trotz starker Konkurrenz: Auch die Performance von Wahzhazhe (A Song for My People), ausgesucht von Star-Regisseur Martin Scorsese für das Finale seines dreieinhalbstündigen Dramas Killers of the Flower Moon, wurde bei den Academy Awards symbolträchtig von den Osage Tribal Singers aufgeführt, die dem im Film vorkommenden Indianerstamm der Osage angehören. Die Darbietung, eine leibhaftige Manifestation der filmischen Botschaft: Trotz jahrzehntelanger Unterdrückung, Ausbeutung und Ermordung in den USA sind die Osage noch immer lautstark.

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What Was I Made For? kommt dagegen zunächst beinahe ein wenig flach daher: Im Original-Musikvideo drapiert Sängerin Eilish ihre Bühnenoutfits im Puppenformat auf einer Miniatur-Kleiderstange, was Kritiker dazu veranlasste, in dem Song vor allem einen Kommentar zu Eilishs Rolle als „Puppe“ der Musikindustrie zu sehen.

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Der Markt weist die Rolle zu

Die im Barbie-Film inszenierte Sinnkrise einer in der perfekten Plastikwelt lebenden Figur übersteigert der Song aber zu nichts Geringerem als der existenziellen Krise des Subjekts im Kapitalismus: Die Unfähigkeit, an der vom Markt zugewiesenen Rolle Freude zu empfinden, mündet in schambehafteter Trauer: „I’m sad again, don’t tell my boyfriend. It’s not what he’s made for.“ Das richtige Leben ist die perfekt erfüllte Rollenerwartung, Enttäuschung darüber emotional illegitim. What Was I Made For? mag als Begleitmusik konzipiert worden sein, erstrahlt aber zu einer Erzählung, die weitaus größer ist als ihre filmische Vorlage.

Nun kann die 22-jährige Billie Eilish zu ihren neun Grammys, zwei Golden Globes und etlichen weiteren Preisen schon den zweiten Academy Award stellen. Es wäre leicht, diesen Erfolg mit geschicktem Marketing oder Nasen in Büchern zu erklären. So leicht, dass es dumm wäre.

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