Keine Befreiung, nirgends

Emanzipation Weder Bikinis noch Burkas, sondern nur eine Überwindung aller Unterdrückungsformen kann den Mensch zum Menschen machen

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Keine Befreiung, nirgends

Foto: FETHI BELAID/AFP/Getty Images

Es mag absurd erscheinen: Als habe Europa derzeit keine Probleme (wie EU-Krise, Rechtsextremismus, Terrorismus, Alkoholismus und Verkehrstote), diskutiert es wie wild um ein bisschen Stoff. Als „Unterdrückungsinstrument“ werden Niqab und Burqa gegeißelt. Als Vorboten des Untergangs des Abendlandes oder mindestens als Affront gegen die Werte der bürgerlichen Revolution. An der französischen Mittelmeerküste hagelt es Verbote für Burkinis, und manch ein Politiker geht mit einem Eifer gegen sie vor, dass man meinen könnte, die Terroristen vom 13. November hätten ihre Opfer unter islamischen Gewändern erstickt – Vollverschleierung in der Öffentlichkeit ist in Frankreich seit 2011 verboten –, anstatt sie zu erschießen, so zerstörerisch wird ihre Präsenz in der westlichen Gesellschaft dargestellt.

Die westliche Gesellschaft, das heißt Bikini statt Burkini. Das heißt kurze Outfits beim Beachvolleyball in Rio statt Ganzkörpersportanzüge. Das heißt kurze Röcke statt lange Gewänder. Als ließe sich die Freiheit der Frau, nein, des Individuums im Allgemeinen, am Prozentsatz der gezeigten Haut messen, werden die unterschiedlichen Gewänder als mehr oder weniger unterdrückerisch bewertet. Von Burqa bis Bikini: Je nackter, desto freier.

Dass in derselben Gesellschaft einem Vergewaltigungsopfer vorgeworfen wird, zu „einladend“ herumgelaufen zu sein, ist schon der erste Hinweis darauf, dass es mit der Liberalität unserer Gesellschaft nicht so weit her ist, wie manch Eiferer glauben machen mag. Denn obendrein ist ebenjene der erzwungenen Bedeckung des Körpers gegenübergestellte „Ent-Deckung“ des weiblichen Körpers nicht nur eine Errungenschaft der gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrhunderte, sondern auch ein repressives Instrument des zeitgenössischen Kapitalismus, das sich großer Aktualität erfreut.

Gewiss, es ist der bürgerlich-liberalen Gesellschaft und dem liberalen Feminismus zu verdanken, dass sich frau keinen archaischen Diktaten mehr unterwerfen muss – aber es ist auch ihr Verdienst, dass ebenjene Freiheit repressiv ist. Dass der Körper zunehmend vermarktet und perfektioniert wird, dass er allgemein in den Fokus der kapitalistischen Verwertungslogik rückt, ist die Kehrseite der Medaille. Nach dem Motto: Wenn ihr eure Körper schon zeigt, dann sollen sie auch nach was aussehen. Macht was draus, am besten, ihr verdient Geld damit. Gutes Aussehen wird zunehmend ein Kriterium für bestimme Anstellungen. Da verwundert es nicht, dass ein unverschleiertes Gesicht quasi die Eintrittskarte in die Gesellschaft ist. Denn wer dem allgemeinen Verwertungswahn einen Teil seines Ichs entzieht, der muss ein Feind der Freiheit sein.

Wenn sich also Liberale und Demokraten über archaische Denkweisen und kulturelle Diktate echauffieren, so tun sie das zwar zu Recht – es ist in der Tat ein Unding, dass sich Menschen von jahrtausendealten Texten oder von ähnlich alten Interpretationen dieser Texte vorschreiben lassen, was sie zu tun und lassen haben –, dennoch nur, um diese durch ihre eigenen, neuen, liberalen Diktate zu ersetzen, die zwar tatsächlich ein Mehr an Freiheit für das Individuum bringen (nämlich die pure Idee, dass es eine solche Freiheit geben kann), aber eben eine tückische Freiheit, die repressiv-autoritär den Menschen weiter knechtet. Psychoanalytisch ausgedrückt: Die Söhne, zusammengerottet in der wilden Horde, ermorden den Vater um seiner Autorität zu entfliehen – und erheben neue Verbote, mit dem Unterschied, dass nun die Vielen, nicht mehr der Eine (aber eben nicht alle), an der Verwaltung der Gesellschaft beteiligt sind. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Debatte immer wieder an Streitfragen zu sexualisierten Themen entbrennt.

Das heißt jedoch nicht, dass Religionen oder Weltanschauungen, die Denk-, Verhaltens- oder sonstige Weisen auf Basis angestaubter Ideologien vorschreiben, in kulturrelativistischer Manier vor dem Furor der bürgerlichen Gesellschaft bewahrt werden sollten. Nicht das Recht auf das religiös motivierte Kopftuch muss verteidigt, sondern die Vermarktung des Körpers und seine Unterwerfung unter jedwede Be- oder Entkleidungsvorschrift muss gebrochen werden.

Es ist eigentlich ein Klassiker dialektischen Denkens: Zwar hat der Mensch im Liberalismus die Möglichkeit, das Konzept der individuellen Freiheit zu entwickeln und ansatzweise erspüren zu können, doch es ist eine unterdrückende Form der Freiheit, die, eingebettet und hervorgebracht durch die materialistische Basis – den Kapitalismus, der die individuelle Freiheit als Legitimation braucht – den Menschen daran hindert, echte Freiheit des Individuums zu erreichen. Nicht die Rückkehr zu primitiven Formen der Unterdrückung, sondern die Emanzipation von allen Unterdrückungsformen ist der Ausweg aus dem Kapitalismus. Nur eine langfristige Alternative zu einem Gesellschaftssystem, das die Freiheit nur dann predigt, wenn sie damit Verwertung meint, kann den Menschen diese Freiheit bringen. Und in der wäre es dann wirklich egal, wer sich wie kleidet. Doch eine Verteidigung kulturell getragener, präkapitalistischer Strukturen ist dafür sicherlich keine Hilfe.

Wenn die Religion das Opium des Volkes ist, so ist der Liberalismus das Koks. Die Betäubung zu kritisieren heißt nicht, den ungesunden Allmachtsrausch gutzuheißen. Aber eine Idee von dem zu haben, was es zu erreichen gilt – das Gefühl der Allmacht bezieht sich in diesem Fall natürlich auf das menschliche Subjekt das, jeder Unterdrückung entledigt, in freiheitlich-solidarischer Weise sein Leben organisiert – ist immerhin besser, als gar keine Ideen zu haben.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Leander F. Badura

Redakteur Kultur (Freier Mitarbeiter)

Leander F. Badura kam 2017 als Praktikant im Rahmen seines Studiums der Angewandten Politikwissenschaft in Freiburg und Aix-en-Provence zum Freitag, wo er bis 2019 blieb. Nach einem Studium der Lateinamerikastudien in Berlin und in den letzten Zügen des Studiums der Europäischen Literaturen übernahm er 2022 im Kultur-Ressort die Verantwortung für alle Themen rund ums Theater. Des Weiteren beschäftigt er sich mit Literatur, Theorie, Antisemitismus und Lateinamerika. Er schreibt außerdem regelmäßig für die Jungle World.

Leander F. Badura

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