In den Tagen nach den Anschlägen sind Twitter und Facebook für die Menschen von Paris vieles zugleich: Informationsquelle, Deutungshilfe, Selbstvergewisserungsmaschine, Suchmöglichkeit für vermisste Angehörige und öffentliches Kondolenzbuch, in dem an die Verstorbenen erinnert wird. Und wo der Schmerz eine erste, spontane Ausdrucksform findet. Man kann die auf Facebook virtuell angezündeten Kerzen als eine Form von Hilflosigkeit belächeln, aber die Geschichte des 13. November 2015 lässt sich ohne die sozialen Netzwerke nicht vollständig erzählen.
In der Terrornacht selbst dienen sie als individualisierte Nachrichtenagenturen. Schnell verbreiten sich online Meldungen über Schüsse und Explosionen. Und sofort versucht jeder, der davon erfährt, über SMS und Whatsapp, aber auch über Twitter und Facebook herauszufinden, wie es um Freunde in Paris steht. Facebook schaltet noch in derselben Nacht eine Funktion frei, die für Naturkatastrophen entwickelt wurde und es erlaubt, mit einem Klick dem eigenen Netzwerk mitzuteilen, dass man sich in Sicherheit befindet. Mit seinem üblichen Faible für Statistiken verkündet der Konzern nach dem Wochenende, dass von dieser Funktion 5,4 Millionen Menschen Gebrauch gemacht hätten. Und 360 Millionen Menschen rund um die Welt hätten sich dadurch vergewissert, dass es ihren Bekannten und Freunden gut gehe.
Auch Twitter hat am Freitagabend schnell Hashtags, in denen es um Wichtigeres geht als ein Freundschaftsspiel im Stade de France. Bürgermeisterin Anne Hidalgo fordert die Bürger via Twitter auf, zu Hause zu bleiben und nicht auf die Straße zu gehen. Auch wer den Account der Bürgermeisterin nicht abonniert hat, bekommt die Nachricht ziemlich schnell weitergeleitet. Der Journalist Sylvain Lapoix führt, noch während geschossen wird, den Hashtag #PorteOuverte ein. Wer seine Wohnung für Schutzsuchende anbieten will, soll mit diesem Begriff und der Lokalisierungsfunktion twittern. Viele Menschen finden so in der Terrornacht eine Zuflucht in der Pariser Innenstadt.
In den Tagen danach bersten die sozialen Netzwerke vor Informationen – auch vor Falschinformationen. Es werden Gerüchte weitergetwittert, Wichtigtuer geben vier Jahre alte Polizeibilder als eine gerade laufende Aktion aus. Alle paar Stunden veröffentlichen deshalb die großen Medienwebseiten aktualisierte Listen, in denen sie die Falschmeldungen der vergangenen Stunden richtigstellen.
Der berührendste Hashtag ist #RechercheParis. Unter diesem Begriff suchen Pariser auf Twitter auch Anfang dieser Woche noch nach vermissten Angehörigen und Freunden. Noch sind nicht alle Todesopfer identifiziert, noch liegen in den Krankenhäusern bewusstlose Schwerverletzte, denen man keine Angehörigen zuordnen konnte. Die #RechercheParis-Tweets zeigen Fotos von lachenden Menschen, auf einer Party, im Urlaub, beim Musikmachen – sie erinnern daran, wie leicht, wie fröhlich das Leben in Paris einmal war. Bevor die Terroristen zuschlugen.
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Lesen sie mehr zum Thema in Ausgabe 47/15 des Freitag
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