Angriff auf Dar Al Shifa-Krankenhaus, oder: Wer das „Floß der Medusa“ überlebt
Gaza Mit dem Gemälde „Das Floß der Medusa“ griff der französische Maler Théodore Géricault 1819 eine Schiffskatastrophe vor Afrikas Küste auf – und hinterließ eine zeitlose Botschaft von Sterben und Auferstehen in existenzieller Not
Ärzte und Schwestern nicht anders zu helfen wissen, als die Toten vor und in einem begehbaren Kühlschrank zu stapeln. Was nichts daran ändert, dass Dutzende nebeneinander auf einem Parkplatz der Klinik liegen, einige in Zelten, andere in praller Sonne, streunenden Hunden ausgesetzt, die ihre Körper zerreißen und verstümmeln. Sie schnell zu bestatten, ist riskant. Die Menschen haben Angst, das Gelände des Hospitals zu verlassen, Beschuss ausgesetzt zu sein, nie mehr zurückzukehren.1819 vollendet und im Pariser Kunstsalon gezeigtEs gibt den ganzen Monat November über diese Berichte, aber die dazugehörigen Bilder fehlen zumeist, kommen aus Pietät nicht zustande oder werden vorenthalten. Dabei gibt es sie durchaus. Der Blick des Betrachters muss sich nur führen lassen, an liegenden, sitzenden, ineinander verschlungenen, nacheinander greifenden, sich reckenden, sich duckenden und sich aufrichtenden Leibern entlanggleiten, bis es kein Weiterkommen mehr gibt und der Gipfel einer Menschenpyramide erreicht ist. Die sie auftürmen, sind in vor Nässe triefende Kleidungsfetzen gehüllt, halb entblößt oder ganz nackt. Der Maler Théodore Géricault hat die auf einem Wrack dem Meer Ausgelieferten so gesehen und gemalt. Sein Bild Das Floß der Medusa, 1819 vollendet und im Pariser Kunstsalon gezeigt, versöhnt die Faszination des Untergangs mit einem Augenblick des Hoffens, der rettungslos Verlorenen Rettung verheißt. Géricault erfasst als Bildmotiv den Moment, da schemenhaft ein Schiff am Horizont auftaucht. Aus Sterben wird Auferstehen, zum Ausdruck gebracht durch den Turm der Körper, der das Bild als Diagonale durchzieht. Ein letzter Kraftakt, bevor die Kraft versiegt. Ausschau halten und winkend auf sich aufmerksam machen, dem Glauben an die Erlösung verfallen und deshalb erlöst werden. Géricault hat sich mit seinem monumentalen Gemälde, sieben Meter breit und fünf hoch, keiner Fantasie des Horrors überlassen, auch kein biblisches oder mythisches Thema bedient, sondern aufgegriffen und gestaltet, was sich drei Jahre zuvor zugetragen und Frankreich erschüttert hat.Der 2. Juli 1816 – im Auftrag von Bourbonenkönig Ludwig XVIII. ist ein Flottenverband unterwegs zur Kolonie im Senegal. Soeben fiel sie von England an Frankreich zurück und soll wieder in Besitz genommen werden. Deshalb stach eine kleine Armada in See und ist an jenem Tag fast am Ziel, als durch einen fatalen Befehl des Kommandeurs Hugues Duroy de Chaumareys das Flaggschiff „Medusa“ auf eines der gefürchteten Riffe von Arguin kracht und zu kentern droht. Weil für die 400 Passagiere an Bord – den frisch ernannten Gouverneur, Siedler mit ihren Familien, darunter neun Kinder, Kolonialbeamte, Matrosen und Marineoffiziere – die Rettungsboote nicht ausreichen, wird in höchster Eile aus Kisten, Planken und Teilen des gebrochenen Mastes der „Medusa“ ein provisorisches Floß gezimmert, das 154 Schiffbrüchige aufnimmt. Die Menschen stehen bis zu den Hüften im Wasser. Sie sollen an Land gezogen werden, bald jedoch entledigen sich die ringsherum Rudernden des Ballasts, die Taue werden gekappt, das Floß der „Medusa“ treibt hinaus aufs Meer, auf schwankenden Planken zwei Fässer Wasser, sieben Fässer Wein, ein Fass Schiffszwieback und das blanke Entsetzen. Aus 154 bangenden und betenden Menschen werden 154 Todgeweihte, überwältigt von der grässlichen Ahnung, dass ihnen niemand mehr helfen kann und will.„Ich musste als Chefarzt entscheiden, wer stirbt und wer nicht“Der palästinensische Arzt Ahmed Abunada, Chefarzt im Dar Al Shifa-Krankenhaus und dank seiner deutschen Staatsbürgerschaft Ende November nach Berlin entkommen, erhält dort die SMS eines Patienten, dem er vor einem halben Jahr eine neue Niere implantiert hat. Er liest: „Friede sei mit dir, Doktor. Wo bist du? Die implantierte Niere funktioniert nicht mehr, ich muss dich schnell sehen. Wo kann ich hinkommen?“ Ahmed Abunada überlegt, wer noch helfen könnte, und denkt an den Nephrologen Hammam Alloh, bis ihm einfällt, dass der nicht mehr am Leben ist, gestorben unter den Trümmern seines Hauses in Gaza. Für den Nierenpatienten wird die Ahnung zur Gewissheit, dass ihm wohl niemand mehr helfen kann und wird.Nach zwölf Tagen auf See sind die meisten der auf das Floß der „Medusa“ Verbannten tot, über Bord gestoßen, verschwunden, ausgelöscht. Wie sich später herausstellt, blieben Mord und Kannibalismus nicht aus. Der Mensch stirbt als Mensch, um als Kreatur zu überleben. Am 14. Juli 1816 gegen Mittag zeigen sich Umrisse eines Schiffes am Horizont. Die Brigg „Argus“ kommt der Arche des Verderbens nahe genug, um des Dramas gewahr zu werden. Zunächst fährt sie vorbei, kehrt aber nach zwei Stunden zurück und nimmt die 15 noch Lebenden auf, von denen in den nächsten Tagen sechs entkräftet sterben werden.Irgendwann gibt es im Dar Al Shifa-Hospital keinen sicheren Ort mehr. Israelische Soldaten dringen ein. Wohin sich noch wenden, wenn ständig geschossen wird, Granaten detonieren und Panzer vor der Tür stehen? Was tun, wenn das Unabwendbare übermächtig wird und keine grässliche Ahnung mehr ist? „Ich konnte nicht mehr dabei zusehen, wie meine Patienten vor meinen Augen starben. Ich habe mich selbst wie ein Verwundeter gefühlt“, erzählt Doktor Ahmed Abunada. Man habe irgendwann niemanden mehr aufnehmen können. Die Menschen verbluteten. „Ich musste als Chefarzt entscheiden, wer stirbt und wer nicht. Alte Menschen haben wir gar nicht mehr behandelt. Irgendwann starben auf den Intensivstationen fast alle Patienten, weil es keinen Sauerstoff mehr gab. Ich habe unzählige Beine, Arme, Oberschenkel von Kindern amputieren müssen, auf dem Boden, ohne Strom, ohne Narkose. Ich habe nicht nach Namen gefragt, sofort entschieden: Amputieren und weg, der Nächste ...“Der Wundarzt Henry Savigny an Bord der „Medusa“Auf Géricaults Floß der Medusa sitzt ein bärtiger Mann, in Mutlosigkeit und Resignation versunken, wie es scheint. Er hat den Kopf auf den rechten Arm gestützt, als wollte er sagen, es lohnt nicht, noch einmal aufzustehen. Die Figur meint den Wundarzt Henry Savigny. Er war auf der „Medusa“ und gehörte zu den von der „Argus“ Geretteten. Im Jahr 1818 wird er Théodore Géricault begegnen, der ihn unbedingt treffen wollte. Savigny schildert ihm, was sich über die Menschen auf dem Floß sagen lässt, und verschweigt, was für alle Zeit unsagbar bleibt.Als wollte er Trost spenden, ruht Savignys linker Arm auf dem Leib eines Toten neben ihm, den irgendwann nichts mehr vor dem Abrutschen in die Tiefe retten wird, sollten sich die dunklen Wolken hinter dem Floß als Vorboten eines Sturms erweisen. Der Arm lässt den Toten nicht allein, er bewahrt ihn auf, er schützt einen Menschen, der keines Schutzes mehr bedarf. Géricault hat seine Gestalten weder als abstoßend Verstümmelte noch von Qualen Entstellte gemalt. Für ihn sind sie Anwesende. Auch der, dessen Kopf nicht mehr zu sehen ist. Um sich noch einmal der Diagonalen anzuvertrauen, die zur Pyramide wird – von links unten, dem Sterbenden mit der Hand im Wasser, steigt sie hinauf zum winkenden Farbigen mit einem flatternden Tuch in der Hand. Mit seinem muskulösen Rücken wird die körperliche Ästhetik eines Athleten sichtbar, der griechischen Antike verwandt. Was wird sein? Geht der Junge mit dem Floß unter? Wird er als Sklave im Senegal verraten und verkauft sein, wenn alles wieder vorn beginnt? Géricaults assoziativ-zeitlose Botschaft: Seht her, diese hier sind Opfer von Unvermögen, autoritärer Anmaßung und Dünkel, von Menschenverachtung und Ohnmacht. Ihnen wurde das Recht auf Leben bestritten, ohne lange zu überlegen. Es geschah einfach so.Am 14. November 2023 stellt Israels Präsident Jitzchak Herzog auf einer Pressekonferenz die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kämpfern in Gaza infrage. Die gesamte palästinensische Nation sei verantwortlich für die Taten der Hamas. Es gäbe keine unbeteiligten Zivilisten in Gaza. Jeder ist schuldig, auf jeden darf geschossen, jedem das Leben genommen werden.Géricaults Werk reißt den Bourbonen die Maske vom GesichtGéricaults Werk ist 1819 eine Sensation und taugt zum Skandal, der den Bourbonen die Maske vom Gesicht reißt, weil sie die Katastrophe der „Medusa“ lange zu verschweigen suchten. Die zum Abdruck vorgesehenen Testimonials von Doktor Savigny und Alexandre Corréard, einem Landvermesser, der das Floß ebenfalls überlebt hat, sind im Jahr zuvor erst zensiert, dann gänzlich verboten worden.Doch schon 1830 wird auf einem Gemälde erneut eine menschliche Pyramide der Verzweiflung und des Aufschreis zu sehen sein. Diesmal nicht behutsam und eher gefällig aufsteigend wie bei Géricault, sondern sich ungestüm aufbäumend. In Anspielung auf die Revolutionstage vom Juli 1830, als sich Plebejer in Paris gegen die feudale Restauration erheben, malt Eugène Delacroix Die Freiheit führt das Volk. Anders als bei Géricault sind seine Gestalten nicht vom Betrachter ab-, sondern ihm zugewandt. Er lässt eine halb entblößte, wild entschlossene „Marianne“ wie eine Rasende über eine Barrikade dahinstürmen. Auch ihr liegen Tote zu Füßen, als wollten sie beglaubigen, was geschieht, auch sie lässt über ihrem Kopf ein Banner – es ist die Trikolore – im Wind flattern wie der junge Farbige sein Tuch auf dem Floß der „Medusa“.Nur hält die Göttin der Revolution ein Gewehr in der Hand und hat einen Jungen mit zwei Pistolen an ihrer Seite, der Victor Hugos Gavroche aus den Elenden vorwegnimmt. Nicht gerettet zu werden, sondern selbst die Rettung zu sein – darauf kommt es an. Es fällt leichter, gegen das Quälende eines nicht mehr zu bändigenden Schmerzes aufzubegehren, statt ihn in Demut zu ertragen. Er habe „sich selbst wie ein Verwundeter gefühlt“, berichtet der Arzt Ahmed Abunada. Wer das Floß der „Medusa“ überlebt, wer das Dar Al Shifa-Krankenhaus übersteht, kehrt fiebernd zurück in eine Welt, die umzustürzen unausweichlich ist.
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