Deutschlands Krieger

Buch Welche Rolle spielte das Militär in der neueren deutschen Geschichte? Der Militärhistoriker Sönke Neitzel hat mit „Deutsche Krieger“ eine Bestandsaufnahme vorgelegt.

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1960: Bundeswehr-Infanteristen bei einer Übung
1960: Bundeswehr-Infanteristen bei einer Übung

Foto: Wikimedia Commons

Zumindest in den Milieus links der Mitte gilt Militär gemeinhin als nicht so sexy. Es ist da; wenn es sein muß (oder entsprechende Gründe vorgegeben wurden), wird es – siehe Afghanistan oder Kosovo – durchaus auch eingesetzt. Dann und wann macht es in Form seiner eigenen Skandale von sich reden. Ob gehortete Waffen, die Funktionalisierung der Truppe für den Aufbau rechter Untergrundnetzwerke oder Zeitvertreib in Form rechter Chats: Neuere und auch nicht mehr so neue Vorkommnisse zeigen, dass das deutsche Militär – konkret: die als vergleichsweise kommod geltende Bundeswehr – immer noch eine Welt für sich ist: mit eigenen Traditionen, eigenen Fragestellungen und auch einem eigenen Blick auf die Politik. Durchaus Anlässe, auch links der Mitte einen genaueren Blick auf die deutschen Armee zu werfen – oder, wie der Militärhistoriker Sönke Neitzel es in seinem Buchtitel auf den Punkt gebracht hat, auf die Deutsche(n) Krieger.

Deutsche Krieger – staatlich organisiert und zusammengefasst kamen sie in der neueren deutschen Geschichte in sechs Verlaufsformen vor: als Heer des deutschen Kaiserreichs, als Reichswehr in der Weimarer Republik, als Wehrmacht der NS-Diktatur, als Bundeswehr in Deutschland-West, als Nationale Verteidigungsarmee in Deutschland-Ost und schließlich als Bundeswehr unter veränderten Vorzeichen im wiedervereinigten Deutschland. Diese sechs offiziellen, quasi staatlich besiegelten Erscheinungsformen bilden in Neitzels historischer Genese das Korsett, den Grob-Rahmen der Darstellung. Auch sachlich ergibt diese Grob-Unterteilung durchaus Sinn: Die Unterschiede zwischen den beschriebenen sechs Streitkräften sind teils extrem – so extrem, dass die Abgrenzung von der NS-Wehrmacht zum Grundverständnis der beiden deutschen Streitkräfte gehörte, welche nach 1945 an ihre Stelle traten.

Ist diese Abgrenzung gelungen, fand sie in ausreichendem Ausmaß statt? Detailliert-anschaulich beschreibt Sönke Neitzel die Auseinandersetzungen, welche um die passende Form der Traditionsvermittlung geführt wurden. Ebenso die Prozesse, die dazu führten, dass die Bundeswehr auch personell lange noch ein Hort rechter Traditionen sowie unvermittelten NS-Traditionsguts war. Die geschichtliche Darstellung setzt jedoch weitaus früher an: 1870/71, mit dem Werden des deutschen Kaiserreichs im Kanonendonner des Deutsch-Französischen Kriegs. Welche Eigenheiten waren dem darauf begründeten kaiserlichen Heer eigen, was war der Unterschied zu den Verbänden, die in der Zukunft folgten? Wie auch in den fünf anschließenden Hauptteilen hält Neitzel sicher die Balance zwischen Ereignis- und Sozialgeschichtlichem. Wobei ereignisgeschichtlich bereits in diesem frühen Stadium das deutsche Heer mit Völkermordpraktiken von sich reden machte – speziell dem an den Herero und Nana im Rahmen der Kolonialkriege in Deutsch-Südwestafrika.

Ein weiteres Element wird in sämtlichen fünf Folgeteilen wieder aufgegriffen: die tribal cultures der jeweiligen Armeen. Wie verhielt es sich mit Schikanen, Übergrifflichkeiten und Indoktrination von oben, wie war das Verhältnis gestaltet zwischen einfachen Soldaten und Offizieren, wie gestaltete sich die Klassenzusammensetzung des Heeres? Thema des ersten Buchteils ist schließlich auch der Ernstfall, der Erste Weltkrieg – ein Szenario, zu dem eben auch die verübten Kriegsverbrechen und Greueltaten gehören. Ebenso wie in den anderen Buchteilen liefert Neitzel auch zu diesem Aspekt die nötigen Fakten und Zusammenhänge. Der Teil über die Reichswehr der Weimarer Republik fällt mit knapp 30 Seiten vergleichsweise kurz aus. Deutlich länger gerät die Genese der NS-Wehrmacht. Einerseits beschreibt Neitzel hier ein breit erforschtes Terrain. Andererseits fügt er dem – sich an einschlägigen Werken wie Bloodlands von Timothy Snyder orientierenden – roten Faden Details hinzu, ohne in bedenkliche Gefilde der Wehrmachtsverklärung abzudriften.

Den Hauptteil von Deutsche Krieger – mehr als zwei Drittel von insgesamt etwas über 800 Seiten – nimmt die Geschichte der deutschen Streitkräfte nach 1945 in Beschlag. Die Gewichtung auf den jüngeren/jüngsten Teil der neueren Geschichte ist für ein zeitaktuelles Buch nachvollziehbar. Die Leser und – so sie wollen – Leserinnen nimmt Sönke Neitzel dabei mit auf eine Zeitreise durch die letzten 70 Jahre. Auch die Friedensstreitkräfte dies- und jenseits der Mauer hatten ihre definierten Ernstfälle, bauten auf Traditionen auf, führten gesellschaftliche Auseinandersetzungen und – seit dem Ende des letzten Jahrtausends – auch Kriege. Auch hier offeriert der Militärhistoriker den üblichen Wechsel zwischen Ereignisgeschichte und tribal cultures – cultures, die sich in mancherlei Hinsicht änderten, in anderen hingegen durchaus traditionsbewusst waren. Schnittpunkt, Ende der Geschichte: die Gegenwart. Mit der üblichen Aussicht: Open End.

„Militär ohne Kommissverherrlichung oder Schwelgen in Schlachten“ – etwas salopp wäre das in etwa das Fazit. Darstellungstechnisch ist Sönke Neitzel auf der Höhe der Zeit. Der historische Faden wird unangestrengt von A nach B gesponnen; die Darstellung ist durch die Bank anschaulich und geht dabei, den jeweiligen Problemkonstellationen angemessen, durchaus in die Tiefe. Anders gesagt: Neitzel versteht es, seinen Stoff auch historisch weniger kundigen Normalleser(inne)n nahezubringen. Thematisch dürfte Deutsche Krieger einen Standard setzen – eine gleichermaßen ausführliche wie anschauliche Darstellung neuerer deutscher Militärgeschichte liegt bislang nicht vor. Nichtsdestrotrotz werden sich insbesondere militärkritische Leserinnen und Leser desöfteren veranlasst sehen, Neitzels Werk gegen den Strich zu lesen. Wie gesagt – der Autor lässt wenig aus; auch die „militär-unangenehmen“ Aspekte der behandelten Historie werden durch die Bank thematisiert.

Muss Deutschland wirklich „am Hindukusch verteidigt“ werden?

Wo ein Wenn, da auch ein Aber: Oftmals ist es das Abwägen, in dessen Gefolge sich dann doch eine Nähe zu Standpunkten militärischer Erfordernisse bemerkbar macht. Besonders deutlich zeigt sich diese Nähe bei der sehr detaillierten Beschreibung der deutschen Beteiligung am Afghanistan-Krieg. Die Problemlagen, denen sich die Einsatzkräfte in der Region um Kunduz gegenüber sehen, sind nachvollziehbar dargestellt – speziell hier auch die Grauzonen zwischen der „Vermarktung des Kriegs“ (der lange Zeit nicht als solcher bezeichnet werden durfte) und der Kollision der politischen Linie mit der tatsächlichen Praxis vor Ort. Sicher bringen diese Parts Informationsgewinne über die Art Krieg, an dem die Bundeswehr dort reell beteiligt ist. Grundsätzliche Fragen allerdings, wie die, ob eine zwischen Polizeifunktion und schmutzigem Krieg oszillierende Mission wie ebendiese nötig ist und ob – so seinerzeit SPD-Verteidigungsminister Peter Struck – Deutschland tatsächlich „am Hindukusch verteidigt werden“ muss, werden von Sönke Neitzel eher aus Bundeswehr-Warte thematisiert als aus übergreifender, allgemeiner, vielleicht auch friedenspolitischer.

Ein Manko im weiter zurückliegenden, sozusagen historischen Part ist die – knappe und zudem auch parteiisch gefärbte – Darstellung der bürgerkriegsförmigen Auseinandersetzungen in der frühen Weimarer Republik. Die Übernahme der offiziellen Position, derzufolge eine drohende Revolution unterdrückt werden musste, wird nicht nur von zahlreichen heutigen Historiker(inne)n stark in Frage gestellt. Der Humus aus Reichswehr, rechten paramilitärischen Verbänden und Schützenhilfe aus den Reihen der national gesonnenen Eliten führte letztlich dazu, dass die erste Demokratie auf deutschem Boden Episode blieb. Auch im Hinblick auf die revanchistischen Militäraktionen in Polen und im Baltikum drückt sich Deutsche Krieger etwas um die problematischen Aspekte des seinerzeitigen Bündnisses zwischen Bürgerlichen und National-Rechten herum.

Summa summarum bleibt die lapidar ausfallende Knappheit bei der Epoche 1918–1933 das größte Manko. Allerdings: Eine besondere Nähe zu den Anliegen der Streitkräfte sollte man bei einem Militärhistoriker grundsätzlich mit auf dem Schirm haben – zumal bei einem, der sich, wie Neitzel, im Rahmen einer Jahre währenden Auseinandersetzung gegen eine kategorische Aufhebung der NS-Unrechtsurteile gegen Deserteure ausprach. Ein Militärfalke in modernem Gewand? Möglich – es gibt eine Reihe Äußerungen Neitzels, welche in diese Richtung interpretierbar sind. Allerdings: Im Unterschied zu seinem Historiker-Kollegen Herfried Münkler, der in seinem Werk zum Dreißigjährigen Krieg in Schlachten und dynastischen Intrigen schwelgt und Kriegsgreuel sowie Leid der Zivilbevölkerung in ein Kapitel zur künstlerischen Aufarbeitung auslagert, verniedlicht oder verschweigt Heintzel die problematischen Seiten des deutschen Kriegertums nicht – oder jedenfalls nicht direkt.

Fazit so: sicher kein antimilitaristisches Buch. Immerhin jedoch eines, dass zumindest in vielen Details auch militärkritisch ist. Sich einen Reim zu machen auf 150 Jahre deutscher Militärgeschichte, bleibt letztlich den Leserinnen und Lesern überlassen.

Info

Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte Sönke Neitzel Ullstein 2020, 816 S., 35 Euro. ISBN 978-3-549-07647-2.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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