„Mein Katalonien“

Autonomiebestrebungen Der Konflikt um die Autonomie Kataloniens droht aufgrund historischer Kontinuitäten und des Fehlens einer gesellschaftlichen Aufarbeitung weiter zu eskalieren

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Es wäre verkehrt, die katalanische Unabhängigkeitsbewegung auf nationale Identitäten zu reduzieren
Es wäre verkehrt, die katalanische Unabhängigkeitsbewegung auf nationale Identitäten zu reduzieren

Foto: Josep Lago/AFP/Getty Images

Der Konflikt zwischen der spanischen Zentralregierung und der katalanischen Gesellschaft droht nach dem Referendum vom 01.10.2017, das von brutalen Polizeieinsätzen begleitet wurde, weiter zu eskalieren. Zuletzt untersagte das spanische Verfassungsgericht dem katalanischen Parlament, am kommenden Montag zu tagen, wo die Ergebnisse des Unabhängigkeitsreferendums bekannt gegeben werden sollen - und gegebenenfalls die Unabhängigkeit Kataloniens von Spanien verkündet wird.

Die ultrakonservative spanische Regierung droht nun mit dem militärischen Ausnahmezustand. Demgegenüber steht die im Moment stärkste und facettenreichste basisdemokratische Zivilbewegung Europas. Auf Grund der langen kollektiven Geschichte Kataloniens hatte diese Mobilisierung von Anfang an einen stark antifaschistischen Charakter. Fälschlicherweise wurde sie lange von den europäischen Medien in den gleichen Suppentopf geschmissen wie etwa die fremdenfeindliche Lega Norte in Italien, der es nur darum geht, den relativen Reichtum für sich zu behalten.

Die Rede des spanischen Königs am Abend des Generalstreiks vor drei Tagen und die Verlautbarungen der Regierungssprecherin, des Justiz- und Innenministers der regierenden Partido Popular zielen darauf ab, die Anwendung des Artikels 155 der spanischen Verfassung propagandistisch vorzubereiten. Das würde die Ausrufung eines wie immer gearteten Ausnahmezustandes (Artikel 116) bedeuten. Es ist ernsthaft zu befürchten, dass es zum Einsatz von Militär, Massenverhaftungen von Regierungsmitgliedern und anderen exponierten Persönlichkeiten kommen wird, um die Kontrolle über eine bislang friedliche Protestbewegung, die den Großteil der katalanischen Bevölkerung erfasst hat, zu erlangen. Mit der Besetzung der Medien, der Verhinderung von freier Kommunikation über das Internet (wie schon in der letzten Woche geschehen) u.v.a.m. könnte ein Szenario innerhalb der EU entstehen, wie wir es beispielsweise aus der Türkei kennen.

Militärputsch – Bürgerkrieg – Unterdrückung

Um die Hintergründe dieses Konfliktes zu verstehen, muss etwas ausgeholt werden: Katalonien ist wie das Baskenland eine eigene Sprach- und Kulturregion mit mehr als 800 Jahren langer Tradition. Zentralspanien und somit auch Madrid waren bis ins letzte Jahrhundert hinein noch stark feudalistisch, kolonialistisch und klerikal geprägt. Eine Phase der Aufklärung hat es nur marginal gegeben. Bis heute pflegen Teile der Gesellschaft den großen hispanischen Traum und zählen jeden Spanisch sprechenden Menschen in dieser Welt, sozusagen aus der Sicht spanischer Urvaterschaft. Im Militärputsch der Franquisten 1936 gegen die demokratisch gewählte fortschrittliche Regierung kulminierten die Widersprüche zwischen dem reaktionären, erzkonservativen, katholischen, spätfeudalistischen Spanien und dem fortschrittlichen Bürgertum, einer syndikalistisch (teilweise anarchistisch) organisierten Arbeiterschaft und einer stark marginalisierten Landbevölkerung.

Letzteren schloss sich der englische Schriftsteller, Essayist und Journalist George Orwell an, der 1936 als Zeitungsreporter nach Barcelona kam. Im Bürgerkrieg sympathisierte er mit den anarchistischen und revolutionären (nicht stalintreuen) kommunistischen Gruppen (POUM) innerhalb der sozialistischen Bewegung, welche die soziale Revolution befürworteten und gegen die Verbürgerlichung ankämpften. Während seines Aufenthalts in Katalonien wandelte er sich zum demokratischen Sozialisten. In seinen Spanien-Erinnerungen liegt eine der Grundlagen von Orwells späterer Totalitarismuskritik, die in seinen Meisterwerken „Farm der Tiere“ und „1984“ gipfelte. Beeindruckt von den Errungenschaften der sozialen Revolution, die er in Katalonien beobachtete, verfasste Orwell sein Buch "Homage to Catalonia" (dt. "Mein Katalonien"). Trotz großer internationaler Unterstützung auf seiten der Aufständigen gewannen letztlich die Truppen Francos - auch durch die nicht unerhebliche Unterstützung der deutschen und italienischen Faschisten - bekanntermaßen den Bürgerkrieg, und ließen ihm eine grausame Repressionswelle, vor allem auch in Katalonien, folgen. Unter anderem wurde die katalanische Sprache verboten. Wenn die paramilitärischen Polizeieinheiten der Guardia Civil Menschen auf der Straße Katalan sprechen hörten, wurden diese drangsaliert und aufgefordert, eine "christliche Sprache" zu sprechen.

Nachdem Franco 1975 im Bett starb, kam es zu einer Phase die als Transición (Übergang) in die spanische Geschichte eingehen sollte. Während die sogenannte sozialistische Partei das Land auf Basis einer bürgerlichen Verfassung im Zuge einer relativ langen Regierungsphase modernisieren konnte, war der reaktionäre Kern der rechtsnationalistischen Gesellschaft allerdings nur unwesentlich geschwächt. Ein ehemaliger Minister aus dem Kabinett Francos gründete dann eine reaktionäre Partei, aus der die derzeit regierende Partido Popular (PP) hervorging. Noch heute stammen Teile dieser Regierung aus alten franquistischen Familien.

Die PP und das Ausbleiben einer Aufarbeitung

Was sich nun in Katalonien abspielt, reaktiviert die alten Traumata dieser faschistischen Zeit. Das prosperierende Katalonien mit der Hafenstadt Barcelona als Mittelpunkt steht in der Tradition einer weltoffenen, aufgeklärten, ja fast libertär modernen Handelsbourgeoisie, vielleicht von der Mentalität vergleichbar eher mit der Hanse oder dem holländischen Bürgertum. Es war in den 20ziger und 30ziger Jahren Zentrum der stärksten libertär anarchistischen Bewegung Europas. Nicht dass es diese Phänomene nicht in Madrid gäbe, aber das Zentrum Spaniens stand und steht fast immer im direkten Konflikt mit diesem klerikal spätfranquistischen Klüngel, der derzeit mal wieder die Regierung stellt.

Im Jahr 2006 war unter der Präsidentschaft des Sozialisten Zapatero im spanischen Parlament mit großer Mehrheit ein erweitertes Autonomiestatut für Katalonien verabschiedet worden - gegen die Stimmen der Rajoy-PP. Dieses Statut hätte Katalonien mehr finanzielle und kulturelle Rechte eingeräumt. Eben dieser Rajoy legte dann allerdings erfolgreich vor dem Verfassungsgericht Widerspruch gegen den Parlamentsbeschluss ein. Mit dem Negativentscheid des reaktionär besetzten Verfassungsgerichts im Jahre 2010 war damit jede verhandelbare Perspektive, den Besonderheiten Kataloniens gerecht zu werden, endgültig gescheitert. Wieder einmal frustriert von der hispanonationalistischen Zentralregierung entwickelte sich in weiten Teilen der katalanischen Bevölkerung die uns nun bekannte Unabhängigkeitsbewegung.

In den letzten Wochen dokumentierte die kritische Auslandspresse im Gegensatz zu den manipulierten spanischen Medien die jüngsten martialischen Polizeiaktionen in Katalonien. Die Zentralregierung verbot darüber hinaus alle Veranstaltungen in Gesamtspanien, die in irgendeiner Weise das Volksabstimmungsbegehren der Katalan*Innen unterstützen. Es hatte in mehreren Städten, auch in Madrid, in der letzten Woche Versammlungen und Demonstrationen gegen die Militärstaatsstrategie der PP-Regierung gegeben, wohl wissend in welch gefährlicher Tradition sich diese Partei und das von ihr durchsetzte Justizsystem bewegt. Große Teile der konservativen Medien Zentralspaniens haben aber auch gut und gerne die Ressentiments gegen die Katalan*Innen, appellierend an die Hispanidad-Gefühle, bedient. Natürlich gibt es auch Entsprechungen in der teilweise nationalistisch geprägten katalanischen Unabhängigkeitsbewegung wie z.B. Vorurteile gegen Südspanien etc..

Aber es wäre vollkommen verkehrt, die katalanische Unabhängigkeitsbewegung auf nationale Identitäten zu reduzieren. Sie spielen vielleicht bei einem gewissen Teil eine Rolle, aber soweit ich das einschätzen kann, motiviert den größten Teil der Menschen vor allem die Ablösung von dem reaktionären Zentrum Spaniens, zu dem auch gewisse Teile der spanischen Sozialdemokratie zählen. Letztere verhält sich wie so oft in der Geschichte mal wieder vollkommen indifferent.

Repression zur Lösung gesellschaftlicher Konflikte

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass sich in dem recht heterogenen Spektrum der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung alle in der Ablehnung der reaktionären und korrupten Politikerkaste Zentralspaniens einig sind. Diese Bewegung ist, trotz nationaler Identitäten, insgesamt weitgehend fortschrittlich, offen und kosmopolitisch - und stark an Europa orientiert.

Wir kennen in Katalonien viele Menschen aus dem links-libertären Spektrum, die diese Unabhängigkeitsbewegung nicht unterstützen, weil sie in diesem Gemenge kein wirklich politisches Projekt identifizieren können und vor allem den heiklen Pakt mit der katalanischen Bourgeoisie, der es gewiss auch um Machtgewinn geht, ablehnen. In dem demokratischen Begehren, diese Angelegenheit nun endlich mal in Form einer Volksbefragung zu klären, sind sich aber alle einig - außer etwa 20 % der Menschen, die eben diese PP und die neue neoliberale Partei Ciudadanos unterstützen.

Hinsichtlich Gesamtspanien ist das Bild komplizierter. Mit systematischen Falschmeldungen und nationalistischer Demagogie hetzt die PP-Regierung nach altbekannten franquistischen Mustern die Menschen und Medien auf.

Nur Teile der Gesellschaft in der Region Valencia und auf den Balearen, wo Sprachen gesprochen werden, die mit dem Katalan fast identisch sind, haben sich mit den Katalan*Innen solidarisiert. Im Baskenland allerdings demonstrierten, auch unterstützt von der baskischen Regierungspartei PNV,ca. 40 000 in Solidarität mit den Katalan*Innen, obwohl letztere Anfang dieses Jahrhunderts die Basken bei einer ähnlichen Initiative ziemlich im Regen stehen gelassen hatten. Der damalige Präsident Kataloniens Pujol hatte es vorgezogen wegen Haushaltsvorteilen mit dem ultrakonservativen PP-Präsident Aznar zu klüngeln.

Das augenblickliche Gemenge ist hochbrisant. Vor dem Hintergrund der noch recht jungen Geschichte der Demokratie Spaniens werden die Scherben der militärpolitischen Politik Rajoys in Katalonien nicht mehr zu kitten sein. Dass der erzreaktionären spanischen Bourgeoisie ähnlich wie 1936 nichts anderes einfällt, als militärische Mittel und Repression zur Lösung von gesellschaftlichen Konflikten einzusetzen, ist zu befürchten und es wird deutlich werden, dass die spanische Gesellschaft die Erfahrung des Faschismus der Francozeit nie aufgearbeitet, sondern einfach nur verdrängt hat. Vor allem die heute von Rajoy geführte PP ist dafür verantwortlich.

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* Dieser Beitrag basiert auf Berichten von Menschen, die seit Jahren in Katalonien leben und arbeiten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Max Jansen

Max Jansen hat Soziologie, Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaften studiert. Derzeit lebt und arbeitet er in Frankfurt am Main.

Max Jansen

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