Grenzen des Sagbaren: Was in der Debatte über Sprechverbote bisher fehlt

Beobachtung Ein Blick in die Sprechverbote während Corona zeigt: Heute ist manches eine Binsenwahrheit. Das könnte beim Ukraine-Krieg bald ähnlich sein und erzeugt einen fatalen psychologischen Effekt
Ausgabe 12/2024
Demonstranten fordern Frieden für die Ukraine: Über das Wie gibt es in Deutschland aber nur eine eher eingeschränkte Debatte
Demonstranten fordern Frieden für die Ukraine: Über das Wie gibt es in Deutschland aber nur eine eher eingeschränkte Debatte

Foto: Olaf Schuelke/Imago Images

Die Debatte über Sprechverbote scheint ausgereizt. Wer zum Beispiel sagt, dass die Ukraine Zugeständnisse wird machen müssen, und hinzufügt, „aber das darf man ja nicht sagen“, dem wird vorgehalten, dass er es doch gerade sagt. Wenn es sich nicht gerade um den Fraktionschef einer großen Partei handelt, wird jener dann einwenden, ja schon, aber es kann mich Einladungen, Forschungsgelder oder Zeitungsaufträge kosten.

Dazu eine Beobachtung, die vielleicht weiterführt: Das Un-, nein besser, das Schwersagbare von gestern ist oft die Banalität von heute. In der Corona-Krise wurde manches nur unter Schmerzen gesagt, das heute locker zugestanden wird. So hat Karl Lauterbach 2021, als er noch Experte und nicht SPD-Gesundheitsminister war, mehrfach behauptet, die Impfung gegen Covid sei frei von Nebenwirkungen, und Andersmeinenden „schäbige Desinformation“ unterstellt. 2023 spricht dann auch Lauterbach von Geimpften, die schwerste und dauerhafte Schäden erlitten hätten, und dass er „all die Zeit“ davon gewusst habe.

Nicht der Irrtum, der ja offenbar gar keiner war, macht viele Menschen wütend, sondern seine Folgenlosigkeit. Und das Abkanzeln anderer Positionen. Manche Leute macht das so wütend, dass sie nicht mehr runterkommen. Auch Armin Laschet (CDU) war wütend: „Nebenwirkungen völlig zu bestreiten, das war jedenfalls nie die Position der Ministerpräsidentenkonferenz. Aber man hat’s nicht gesagt. Man hat’s nicht kommuniziert.“ Bei ihm hat die Wut über Lauterbachs Aussage zur Forderung nach einem Corona-Untersuchungsausschuss geführt. Auf Bundesebene hat es diesen Ausschuss nie gegeben. So wird das Schwersagbare langsam vergessen.

Die neuen Michael Kohlhaasens

Aber nicht von allen. Eine Minderheit verfällt in Groll und radikalisiert sich. Man denke nur an die Politologin Ulrike Guérot, die früher Bücher über die europäische Demokratie geschrieben hat und heute den Eindruck erweckt, dass sie die AfD nicht für das größte aller Übel hält. Diese Menschen treibt eine Ungerechtigkeit, die (für sie) zum Verrücktwerden ist. Es sind die neuen Michael Kohlhaasens.

Sie glauben nicht mehr, dass Gerechtigkeit innerhalb des Systems wiederhergestellt werden kann. Okay, Kohlhaas hat ganze Städte niedergebrannt, die Brände von heute finden zum Glück nur in den sozialen Medien statt. Aber es trägt zu dem bei, was die „Mitte-Studie“ letztes Jahr ermittelt hatte: Der Vertrauensschwund in die Demokratie und ihre Institutionen führt zu einem Rechtsrutsch. Man wird aus einem verletzten Gerechtigkeitsempfinden heraus nicht notwendigerweise links: eine unangenehme Erkenntnis, an der gut gemeinte Bekämpfungsstrategien zu scheitern drohen.

Die spätere Nonchalance der einen, der Groll der anderen

Deshalb: Das Schwersagbare von heute könnte die Banalität von morgen sein. Wir werden es möglicherweise im Ukraine-Krieg erleben. Falls der Westen nicht den Wahnsinn der direkten Konfrontation mit Russland riskiert, wird es zu schmerzhaften Kompromissen kommen müssen. „Ist es nicht an der Zeit, dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann?“ Für diese Worte bekam der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich von fast der ganzen deutschen Presse aufs Dach, obwohl man sicher sein kann, dass sehr wohl darüber „nachgedacht wird“, vor allem auch außerhalb der Bundesrepublik.

Und wenn es dann zur Binse geworden ist: Werden wieder Nonchalance auf der einen Seite und Groll auf der anderen herrschen?

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Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

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