„Material Girls“ zu Gender und Geschlecht: Nicht aufregen!

Feminismus Die Illusion absoluter subjektiver Freiheit ist angesagt. „Material Girls – Warum die Wirklichkeit für den Feminismus unerlässlich ist“ lautet der Titel von Kathleen Stocks Buch. Ist die Autorin transfeindlich?
Exklusiv für Abonnent:innen | Ausgabe 28/2022
„Material Girls“ zu Gender und Geschlecht: Nicht aufregen!

Illustration: Der Freitag

So mancher Gender-Streit eskaliert nicht nur auf Twitter, sondern auch abseits von Unis in hippen Großstädten. So in Halle. Dem dortigen Frauenzentrum Dornrosa wurden kürzlich sehr unfreundliche Tags auf die Fassade gesprayt. Es war zu lesen: „TERFs boxen!“ TERF, ein Begriff aus dem Englischen, bezeichnet eine Feministin, die sich in den Augen von Kritiker:innen transphob äußert. Seit der Schriftstellerin J. K. Rowling, der Harry-Potter-Erfinderin, das Etikett anhängt, weiß auch Otto Normalverbraucher etwas damit anzufangen. Als Grund für die Farbattacke auf den Verein wurde eine Veranstaltung mit einer als transphob bezeichneten feministischen Referentin deklariert. Die Aktion zeigt eindrücklich, dass sich die Lager immer unversöhnlicher gegenüberstehen.

Als versachlichenden Beitrag zum Diskurs versteht sich das in der Edition Tiamat verlegte Buch der Philosophin Kathleen Stock, die durch ihre Kritik am Gender-Paradigma bekannt geworden war. Die Übersetzung besorgte der genderkritische Aktivist Vojin Saša Vukadinović. Die Autorin könnte man als Opfer akademischen Mobbings bezeichnen. Sie gab nach Anfeindungen wegen ihrer Kritik an der Theorie der Geschlechtsidentität ihre Professur an der University of Sussex auf und lehrt nun in den USA. Ihr Übersetzer ist seit geraumer Zeit unterwegs, um vor der Unterminierung wissenschaftlicher Standards in den Diskursen um Sex und Gender und den politischen und sozialen Folgen zu warnen.

Die LGBTQI-Aktivist:innen spitzen ihr Programm auf den Kernslogan „Gender is mine to define“ zu. Die Kritiker:innen-Szene flüchtet sich in die Biologie. Vukadinović spricht polemisch von der „Austreibung der Natur“ durch die „Queer- und Transideologie“. Und das „material“ im Titel von Kathleen Stocks Buch bedeutet genau das: Als materielle Basis einer Theorie der Geschlechtlichkeit wird nur das Biologische anerkannt.

Wer beim Lesen zu den Abschnitten um die Selbstbestimmung der Geschlechtsidentität bereits im Kindesalter kommt, wird vielleicht am heftigsten zu einer Stellungnahme für oder gegen das Identitäts-Konzept von Queeraktivist:innen oder die Stock-Kritik daran gedrängt. Stock sieht in den Bekundungen mancher kleiner Kinder, statt ein Mädchen lieber ein Junge sein zu wollen oder umgekehrt, noch keine Äußerung von Geschlechtsdysphorie, also einem schmerzlichen Leiden am biologisch „zugewiesenen“ Geschlecht. Sie rät, dies zunächst als eine Laune, eine Verwirrung oder gar ein Symptom für psychische Auffälligkeiten aufzufassen. Ihr zentraler Begriff ist „Identifikation“ mit etwas, das man sich sehnlich wünscht. In der Jugend sei sie oft intensiv, aber vorübergehend. Das klingt nach pubertären Turbulenzen, die meist irgendwann wieder überstanden sind. So wie ja auch das Phänomen Jugendkultur als subkulturelle Identifikation in einer Lebensphase des Übergangs beschrieben wird, wo alles unsicher scheint, wo man nach der eigenen sexuellen Identität noch sucht. Stock warnt davor, bei Kindern und Jugendlichen irreversible körperliche Eingriffe wie Hormontherapien oder Operationen vorzunehmen. Die Gegenseite sieht hier jedoch bereits verlässliche Äußerungen von authentisch empfundener Geschlechtsidentität und eine souveräne Entscheidungsfähigkeit.

Auf welche Toilette?

Fakt ist, diese Jugendlichen sitzen zwischen den Stühlen einer genderbinär ausgerichteten Kultur, die noch in den banalsten infrastrukturellen Zusammenhängen erscheint. Auf welche Toilette gehen diese Kinder? Schlafen sie in der Jugendherberge im Zimmer der Mädchen oder dem der Jungen? Das Hauptproblem aber ist: Werden Menschen, die die binären Konventionen der aktuellen Genderkultur nicht erfüllen, rückhaltlos als die Menschen geachtet, die sie sind, oder nicht?

Das Genderkonzept von Kathleen Stock beruht auf der Annahme einer grundlegend biologisch bestimmten Geschlechtlichkeit. Sie nimmt dafür die Bezeichnung „binär“ zustimmend an. Die je aktuellen Äußerungsformen dieser elementaren Weib- und Männlichkeit, die Genderkultur, versteht sie aber nur als das wandelbare ästhetische Styling eines natürlichen Zustands, als Kostüm des biologischen Geschlechts für die Bühne der Gesellschaft. Darin ähneln sich die Auffassungen der Kontrahent:innen in diesem Streit. Einziger Unterschied: Das eine Kostüm ist von der Stange, das andere maßgeschneidert.

Die queertheoretische Konzeption von Geschlecht, angelegt um den Begriff der Geschlechtsidentität, bestreitet die Realität des Biologischen, verlegt die Bestimmung des Geschlechts ganz in die subjektive Entscheidung. Stock erwähnt das Beispiel eines transidenten Mannes, der auf biologisch weibliche Weise ein Kind zur Welt brachte und der verlangte, als Vater in die Geburtsurkunde eingetragen zu werden. Sie findet das absurd. Die Queeraktivist:innen wollen genau dieses Recht erkämpfen.

Kathleen Stock thematisiert aber einen wichtigen Punkt: Gesellschaften müssen ihre Konflikte regeln. Sie müssen institutionalisierte Wege finden, Interessen auszugleichen, Gruppen zu schützen, Diskriminierungen zu unterbinden. Dafür – meint sie – hätten die Queeraktivist:innen keinen praktikablen oder einen kontraproduktiven Ansatz. Diese Kritik ist nicht ganz unberechtigt. Wir sehen hier aber zwei emanzipatorische Konzepte, die sich beide als gruppenegoistisch herausstellen, in einer Art Opferkonkurrenz. Sowohl die „erwachsenen Personen (biologisch) weiblichen Geschlechts“ (Stocks Definition von „Frau“) als auch die Personen diverser, teils nonbinärer oder transitioneller Geschlechtsidentitäten sehen ihre Interessen derzeit von der jeweils anderen Seite bedroht.

Stocks Anliegen ist es, die Begriffe „Frau“ und „Mann“ vor der Auflösung zu bewahren. Besonders eine klare Bestimmung des Frau-Seins sei dringend notwendig, solange Frauen in der Realität mit höherer Wahrscheinlichkeit von männlichen Übergriffen betroffen sein können als umgekehrt. Und letztlich sind nach Stock die einzigen verlässlichen Kriterien für die Geschlechtsbestimmung die biologischen. Um dies einmal mehr zu beweisen, stellt sie das Konzept des sozialen Geschlechts, wie es vom klassischen Feminismus entwickelt wurde, in Frage. „FAS“ (Frau als soziale Rolle), kürzt sie ironisch ab. Soziale Rollen sind äußerlich und zufällig, meint die Autorin. „Ob Frauen im Durchschnitt von Natur aus für Häuslichkeit oder für etwas anderes geeignet sind oder nicht, ist eine rein empirische Angelegenheit (...) und hat nichts mit den Zugehörigkeitskriterien für das WEIBLICH SEIN zu tun.“ An anderer Stelle wieder wird von ihr die hohe Gefährdung von Frauen durch Männergewalt als empirisch feststellbare soziale Folge des Frau- oder Mann-Seins beschrieben. Mit Stock kann man also doch nur folgern, dass es Chromosomen und Hormone sind, die dieser sozialen Empirie zugrunde liegen.

Eigentlich gibt es nicht zwei, sondern drei Genderkonzepte, die derzeit nicht zusammenkommen. Das biologische Geschlecht, das soziale und die Geschlechtsidentität als ganz subjektiv behauptete, nicht sozial ausagierte, also auch nicht gesellschaftlich verifizierbare Geschlechtlichkeit. Stock wie auch ihre Kritiker:innen unterschätzen die objektive Wirkmächtigkeit des sozialen Geschlechts als Element einer aktuell herrschenden Kultur. Diese Kultur muss verändert werden. Vom biologistischen Standpunkt aus steht die Natur übermächtig dagegen. In der Behauptung „Gender is mine to define“ dagegen steckt die Illusion absoluter subjektiver Freiheit.

Stocks Buch bezieht eine eindeutige Position. Es ist aber keine Lektüre zum Aufregen.

Material Girls. Warum die Wirklichkeit für den Feminismus unerlässlich ist Kathleen Stock Vojin Saša Vukadinović (Übers.), edition Tiamat 2022, 384 S., 26 €

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