Oh Boy: Männlichkeit in Zeiten der Nabelschau

Meinung Ein Mann schreibt in einem Sammelband darüber, wie er zum Täter wurde. Gegen den Willen des Opfers. Wie hätte man das verhindern können? Indem man die Männlichkeitsdebatte aus der endlosen Selbstbefragung holt, meint unsere Autorin
Ausgabe 34/2023
Sehen so Feministen aus?
Sehen so Feministen aus?

Foto: Jim Young/AFP/Getty Images

Manchmal ist die englische Sprache ganz nett. Viele Ausdrücke können heißen, was immer man gerade sagen will, wenn man sie nur jeweils richtig betont. „Oh Boy“ ist so einer. Man kann ihn begeistert rufen, mal sorgenvoll murmeln oder genervt seufzen. Und seit einigen Tagen liest man ihn in den Schlagzeilen deutscher Feuilletons.

„Oh Boy“ heißt ein Sammelband über „Männlichkeit*en heute“, der im Juli im Kanon Verlag erschien. Die beitragenden Autoren unterziehen sich einer „Selbstbefragung“ über ihr Geschlecht und teilen der Welt anschließend die Selbstantworten mit. So weit, so gegenwärtig, seufz, oh Boy. Jetzt, sechs Wochen nach Erscheinen, stoppte der Verlag die Auslieferung. Bei Valentin Moritz, einem der Autoren, ergab die Selbstbefragung einen sexuellen Übergriff. Aus dem Jahr 2022. Der Beitrag erschien gegen den ausdrücklich erklärten Willen der Betroffenen. Oh Boy.

Ein Nein akzeptieren? Immer noch nicht gelernt

Valentin Moritz löschte zunächst die protestierenden Kommentare der Betroffenen und blockierte ihren Account. Erst der öffentliche Druck und die Absage einer Lesung zwangen ihn, sich dazu zu verhalten. Es scheint, als könne ein übergriffiger Mann doch nicht innerhalb eines Jahres einen so umfassenden Lernprozess durchlaufen, dass er etwas Nützliches zum Diskurs um sexualisierte Gewalt beizutragen hat. Ein Nein zu akzeptieren, hat er in dieser Zeit jedenfalls nicht gelernt – wohl aber, wie man die eigene Täterschaft versilbert. Und was lernen wir?

Die Sache mit der Männlichkeit im Feminismus ist verzwickt. Natürlich müssen Männer sich beteiligen, heißt es einerseits, wäre ja noch schöner, wenn neben dem Kochen und den Kindern auch noch die Abschaffung des Patriarchats an den Frauen hängen bleibt. Andererseits sollen sie sich nicht zu wichtig machen, nicht zu viel Raum beanspruchen, überhaupt ihre ganze unausweichliche Präsenz zurückfahren. Da kann einem schon mal der Kopf brummen. Grundsätzlich ist daher Nachsicht geboten. Aus dieser Nachsicht ist in den letzten Jahren allerdings ein ganzes Genre erwachsen. In der progressiven Kulturlandschaft kann man neuerdings keine zwei Meter laufen, ohne dass einem ein beschämter Kerl vor die Füße stolpert und seine Männlichkeit reflektiert.

Zwischen Täter-Werden und Täter-Gewesen-Sein

Im Zeitalter der Nabelschau darf es nicht wundern, dass diesen Auseinandersetzungen soziologische, historische oder psychologische Grundlagen fehlen. Stattdessen schwelgt man ausgiebig in Anekdoten, Selbstbefragung eben. Es ist wie beim Rassismus, der Behindertenfeindlichkeit, selbst der Armut: Wo der liberale Zeitgeist einer Systemanalyse im Weg steht, werden Einzelerfahrungen zum alleinigen Gegenstand der Betrachtung. Und am Ende gilt es in der Kulturbranche, Kulturprodukte zu verkaufen. Die müssen vor allem gute Geschichten erzählen. Von Menschen, von ihren Fehlbarkeiten, ihren Entwicklungen, ihren Erlebnissen. Deshalb ist es so verlockend, einen Mann über das Täter-Werden und das Täter-Gewesen-Sein schreiben zu lassen. Und darüber zu vergessen, dass Täterschaft auch ein Ist-Zustand sein kann.

Studien zu wälzen und allgemeine Beobachtungen zu den gesellschaftlichen, ökonomischen, rechtlichen Geschlechterverhältnissen anzustellen, ist aus der Mode geraten. Aber wir kommen daran nicht vorbei. Bis wir einen Weg finden, feministische Systemkritik – die ja Männer genauso betreiben können wie Frauen – wieder en vogue zu machen, werden wir uns mit den Ergebnissen männlicher Selbstbefragung abfinden müssen. Dass die durchaus grausig sein können, ist der am wenigsten überraschende Teil.

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Geschrieben von

Özge İnan

Redakteurin, Social Media

Özge İnan hat in Berlin Jura studiert. Währenddessen begann sie, eine Kolumne für die Seenotrettungsorganisation Mission Lifeline zu schreiben. Nach ihrem ersten juristischen Staatsexamen folgten Stationen beim ZDF Magazin Royale und im Investigativressort der Süddeutschen Zeitung. Ihre Themenschwerpunkte sind Rechtspolitik, Verteilungsfragen, Geschlechtergerechtigkeit und die Türkei.

Foto: Léonardo Kahn

Özge İnan

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