ESC in Liverpool: Hej då, Peinlichkeiten

Eurovision Song Contest Vertraut man den Wettbüros, wird sich beim ESC in diesem Jahr Loreens „Tattoo“ und damit die globale Erfolgs-Pop-Formel aus Schweden durchsetzen. Aber wie verträgt sich diese glatte Ästhetik mit der Realität von Gewalt und Tod in Europa?
Ausgabe 19/2023
Hier ist alles inszeniert: Die Schwedin Loreen während der Generalprobe für das ESC-Halbfinale
Hier ist alles inszeniert: Die Schwedin Loreen während der Generalprobe für das ESC-Halbfinale

Foto: Anthony Devlin/Getty Images

Just in dem Moment, wo sich der ESC zu einer stromlinienförmigen globalen Marke entwickelt hat, kehrte mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine vor einem Jahr der Krieg nach Europa zurück. Wie verträgt sich die glatte Musikvideo-Ästhetik der erfolgversprechendsten Beiträge in diesem Jahr mit der Realität von Gewalt und Tod in Europa?

Céline Dion hatte 1988 den Eurovision Song Contest in Dublin mit dem französischsprachigen Lied Ne partez pas sans moi für die Schweiz gewonnen. Ein paar Jahre später sang sie in der Liga der Power-Diven Mariah Carey und Whitney Houston, aber ihre internationale Karriere wurde nie so richtig als Fortsetzung ihres denkwürdigen Auftritts beim Eurovision Song Contest (ESC) verstanden: Eine überragende Stimme war in Dublin zu hören, doch die Bewegungen der jungen Frau vor der Kamera waren ungelenk. Dion war damals 20 Jahre alt, ihre Rolle auf der Bühne hatte sie noch nicht gefunden. Fast könnte man sagen, Celine Dion wurde nicht wegen, sondern trotz ihres Triumphs beim ESC anschließend zum Superstar. In Interviews vermied sie das Thema Eurovision.

So mancher Star schämte sich später für seinen ESC-Auftritt

Dass Stars sich ihres Auftritts beim ESC eher schämten, als stolz darauf zu sein, oder ihn bestenfalls nachträglich ironisch kommentieren, ist kein Einzelfall – man denke an die Anekdoten zu Joy Flemings grünem Kleid und Nicoles weißer Gitarre. Manchmal schien der ESC – trotz Abba und Céline Dion – eher eine Bürde als eine Chance für eine große Karriere zu sein.

Doch diese Zeiten sind vorbei. Måneskin, die italienischen Glamrocker, die 2021 mit ihrer energetisch-androgynen Bühnenshow den ESC gewannen (Zitti e Buoni), spielen inzwischen in Berlin vor ausverkauftem Haus, treten bei den American Music Awards auf und hatten mit Beggin’ einen weltweiten Hit, der sie auch in die Top 20 der US-Billboard-Charts brachte. Cool und ESC ist kein Widerspruch mehr. Auch Duncan Laurence, dem holländische Sieger aus dem Jahr davor, gelang mit Arcade einen beachtlichen Erfolg. Die erfolgreichste Interpretin der jüngeren ESC-Geschichte, die Schwedin Loreen, die 2012 mit Euphoria den Wettbewerb gewann und damit einen der größten Hits des Jahres in Europa hatte, kehrt dieses Jahr zurück und wird natürlich von den Wettbüros auf Platz eins gesetzt: Der ESC als Hitmaschine.

Eingebetteter Medieninhalt

Loreens neuer Titel Tattoo ist die Live-Inszenierung eines Musikvideos. Lichtshow und Kameraeinstellungen sind mindestens genauso wichtig wie der Song selbst. Schweden hat bei seinem nationalen Vorentscheid Melodifestivalen eine Formel von Pop entwickelt, die nicht nur beim ESC zu Erfolg führt. Seit über 20 Jahren kaufen amerikanische Popstars ihre Hits gerne bei schwedischen Produzenten ein (Backstreet Boys, Britney Spears), genauso wie viele osteuropäische Länder, für die der Auftritt beim ESC immer noch eine Gelegenheit darstellt, sich auf der gesamteuropäischen Bühne Gehör zu verschaffen.

Von Abba zu Loreen: Die Erfolgsformel des Schwedenpop

Diese Art von Pop ist abstrakt, sie besitzt keine regionale oder nationale Eigenheit und ist von vorneherein für ein internationales Publikum produziert. Dieser Pop ist auch meistens „weiß“. Natürlich sind Abba die Urheber dieser Erfolgsgeschichte, aber als Stil hat sich Schwedenpop längst jenseits individueller Talente etabliert. Für den Erfolg beim ESC ist dieser abstrakte Pop zum Standard geworden. Wenn Loreen am Samstag in Liverpool tatsächlich wieder gewinnt, hat Schweden mit Irland gleichgezogen: Beide Länder haben dann insgesamt sieben Siege beim ESC aufzuweisen und jeweils eine Interpretin oder einen Interpreten, der zum zweiten Mal gewonnen hat, Loreen beziehungsweise Johnny Logan (1980 und 1987).

Ohne Frage ist dieser musikalische Erfolg Schwedens einem Respekt gegenüber dem ESC und einer Professionalisierung der nationalen Teilnahmekultur geschuldet. Melodifestivalen ist in Schweden fast populärer als der ESC selbst, eine Entwicklung, auf die man in Deutschland mit seinem immer irgendwie improvisiert wirkenden Vorentscheid bisher vergeblich wartet. Obwohl Barbara Schöneberger bei der Moderation ihr Bestes gibt, schwankt die Eurovisionskultur hier immer noch hauptsächlich zwischen Albernheit und Desinteresse und führt damit geradewegs zum Dilettantismus. Nur alle paar Jahrzehnte landet zufällig ein Talent wie Lena beim ESC. Strategisches Nation-Branding sieht anders aus.

Die ästhetische Dominanz und der kommerzielle Erfolg Schwedens führen aber auch zu einer Homogenisierung des Wettbewerbs. Die „Peinlichkeiten“ und Kuriositäten auf der Bühne, für die der ESC stets geliebt wurde, verschwinden langsam. Derweil fängt ein amerikanisches Fernsehpublikum an, sich für die Show, die auch dort seit fünf Jahren live im Fernsehen übertragen wird, zu interessieren. Gleichzeitig wächst die Fangemeinde online, der ESC als globale Marke ist zunehmend erfolgreich.

Mit der Globalisierung des ESC steht aber nicht nur der Gegensatz von Professionalisierung und Dilettantismus auf dem Spiel. Auf eigentümliche Weise waren die Auftritte beim ESC auch immer eine Spiegelung europäischer Geschichte, zum Beispiel wenn der ukrainische Damenimitator Verka Serduchka im Kommandoton Befehle zum Tanzen gab – auf Deutsch! Oder wenn der Italiener Toto Cutugno sich von dem Fall der Berliner Mauer zur sentimentalen Friedenshymne inspirieren ließ.

Robert Tobin sprach vom Gefühl der „European Citizenship“

Diese Beiträge waren nicht immer ästhetisch überzeugend (Verkas Dancing Lasha Tumbai schon), gerade die Unstimmigkeit zwischen der Ernsthaftigkeit des Anliegens und der qualitätsmäßig stark schwankenden Popware war für viele Beiträge typisch. Doch in ihnen spiegelten sich manchmal auf anrührende Weise schicksalhafte Moment der europäischen Nachkriegsgeschichte. Auf sehr unterschiedliche Art und Weise kam hier eine europäische Gemütslage zum Ausdruck: als Leiden an Europa, als Sehnsucht nach Europa, als Hoffnung für Europa. Der im letzten Jahr verstorbene US-amerikanische Germanist Robert Tobin hat diese Erfahrung beim ESC „European Citizenship“ genannt – die Möglichkeit eines Zugehörigkeitsgefühls in einem kulturellen und historischen Sinne, für das Europa sonst wenig Gelegenheiten bietet.

Mit dem Erfolg der schwedischen Popformel und der Globalisierung des ESC ist von dieser spezifisch europäischen Sentimentalität oftmals nicht mehr viel übrig. Das 20. Jahrhundert ist schon lange vorbei. Der ESC hat sich in der neuen Medienlandschaft zwischen YouTube und TikTok bestens eingerichtet. Hat er damit seine europäische Identität verspielt?

Der bisher größte ESC fand 2009 in Moskau statt

Der Überfall Russlands auf die Ukraine im letzten Jahr hat den ESC dazu gezwungen, mit dieser politischen Realität umzugehen. Nach anfänglichem Zögern und erst auf Androhung einzelner Mitgliedstaaten dem ESC sonst fernzubleiben, entschied sich die European Broadcasting Union (EBU), Russland vom ESC auszuschließen. Auf welche Weise Russland in den vergangene 25 Jahren den ESC als Softpower-Propagandainstrument benutzt hat – der größte ESC bisher fand 2009 in Moskau statt – diese Geschichte muss noch geschrieben werden.

Die Reaktionen Europas im letzten Jahr waren am Ende eindeutig. Russland, das wie die Türkei schon zuvor oft gegen die queere Kultur beim ESC gehetzt hatte, musste dem Wettbewerb fernbleiben und die europäischen Zuschauer_innen machten im Televoting die ukrainische Band Kalush Orchestra mit ihrem Lied Stefania zum Sieger des Abends. Was Tobin „European Citizenship“ nennt, hatte sich im Abstimmungsverhalten noch einmal deutlich gezeigt.

Mit dem ukrainischen Beitrag Heart of Steel von Tvorchi – stilistisch eher an internationalen Soul angelehnt und mit weniger regionaler Färbung – wird das dieses Jahr vermutlich nicht wieder passieren. Aber der ESC ist immer noch ein europäisches Musikfestival und keine beliebige Castingshow, und selbst wenn es in diesem Jahr nicht immer die Musik ist, die europäische Identität vermittelt, so ist es doch der Event selbst.

Zu Gast in Liverpool

Großbritannien, das als zweitplatzierter des Vorjahres dieses Jahr als Gastgeber für die Ukraine eingesprungen ist, weil der ESC nicht im Kriegsgebiet stattfinden kann, hat das Kunststück hinbekommen, ein unterhaltsames Popspektakel mit dem Gedenken an den Krieg in der Ukraine zusammenzubringen. Während vergangenes Jahr noch Unsicherheit herrschte, wie man den Beschuss ukrainischer Städte in einer Samstagabendshow adressieren kann, und schließlich nur die Sympathiebekundungen beim Abstimmen selbst blieben, ist die Ukraine dieses Jahr allgegenwärtig.

Als Austragungsort hat Liverpool ukrainische Künstler_innen eingeladen, die die ESC-Woche über ihre Arbeiten hier präsentieren. Auf dem ESC-Logo ist die ukrainische Flagge zu sehen, ganz Liverpool ist in blau-gelb geschmückt. Die erste Halbfinalshow von Dienstagabend hat gezeigt, dass hier nicht nur mit Showacts der Ukraine gedacht wird. Auch von den Moderator_innen – eine von ihnen, Julija Sanina, kommt aus der Ukraine – wird der Krieg als Thema nicht vermieden. Mit dem diesjährigen ESC beweisen die BBC und das Gastgeberland Großbritannien, dass europäische Solidarität nicht nur politisch und militärisch funktioniert.

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