Die unsrigen Tage

Europa Flucht, Abschottung und Ungleichheit: Die gegenwärtige Realität kommt einer Film-Dystopie aus dem Jahr 2010 schon recht nahe
Flüchtende an Europas Grenzen: Aus dem Ungewissen ins Ungewisse
Flüchtende an Europas Grenzen: Aus dem Ungewissen ins Ungewisse

Foto: Armend Nimani/AFP/Getty Images

"Wir werden sie erleben, die Zeit der Unsicherheit", heißt es im Trailer zum Film Die kommenden Tage. Eine Familiengeschichte, eine Dystopie, angelegt in den Jahren zwischen 2012 und 2020; in Berlin hat die Wohnungsnot elendige Zeltstädte in Nachbarschaft zu vergitterten Luxusrestaurants entstehen lassen, die EU ist zerbrochen, Mitteleuropa schottet sich in den Alpen gegen Flüchtlinge aus Afrika ab, die gegen hochgerüstete, von Soldaten bewachte Grenzmauern anrennen.

Man konnte das 2010, als der Film in den Kinos lief, für eine mögliche, aber weit entfernte Zukunft halten, 10.000 Geflüchtete kamen damals über das Mittelmeer, 2011 waren es im Zeichen des Arabischen Frühlings 70.000. Da sich an der Ungleichheit in den europäischen Gesellschaften nichts ändert, wirkt jener Film heute mehr realistisch als dystopisch, Zeltstädte Wohnungsloser kennt Berlin auch schon.

In den Alpen, an der Grenze zu Slowenien, üben österreichische Soldaten gerade die Abwehr von Flüchtlingen, über das Mittelmeer irren Schiffe mit aus Seenot Geretteten, denen Regierungen völkerrechtswidrig die Hafeneinfahrt verbieten, die sozialdemokratische in Spanien weist die "Lifeline" ab, da sie das Steigen der Zahlen der Ankommenden füchtet. Die vor Verfolgung und Perspektivlosigkeit Fliehenden gelangen vielfach nur bis in die Sahara, in libysche Internierungslager – wie es sie nach Willen des italienischen Innenministers Matteo Salvinia bald auch an der Südgrenze des einstigen Nationalstaates Libyen und in Niger geben soll –, auf das Mittelmeer oder, wenn nach Europa, dann meist auf die Obst- und Gemüseplantagen im Süden.

So lange sich der hiesige Diskurs nur um Geflüchtete und nicht um Vermögende dreht, so lange Konzepte wie das Gesine Schwans, Kommunen anstatt von Nationalstaaten als Hauptakteure für Aufnahme und Integration aufzustellen (Barcelonas Bürgermeisterin Ada Colau hatte ihre Stadt als sicheren Hafen für die Passagiere der Lifeline angeboten), weitgehend unbeachtet bleiben, solange das UN-Flüchtlingshilfswerk unterfinanziert bleibt, so lange die nördliche Hemisphäre die Notwendigkeit ignoriert, ihre imperiale Lebensweise zu transformieren – so lange wird ein Mehr an gewaltsamer Abschottung Tatsache, wird die Dystopie noch deutlicher zur Realität, werden aus den Kommenden Tagen mehr und mehr Unsere Tage.

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Geschrieben von

Sebastian Puschner

Stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter „Politik“

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

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