Bernie Sanders über US-Präsidentschaftswahl: „Was Progressive 2024 tun müssen“
Meinung Wohnungsnot, grassierende Ungleichheit, schlechte Gesundheitsversorgung, Kinderbetreuung: Die USA stehen im Präsidentschaftswahljahr vor gigantischen Herausforderungen. Hier schreibt Bernie Sanders, welche Lösungen es braucht
Der Senator für Vermont Bernie Sanders kämpft für eine progressivere Politik der Vereinigten Staaten
Foto: Drew Angerer/Getty Images
Es ist kein großes Geheimnis. Es sind die schwierigsten und herausforderndsten Zeiten in der modernen Geschichte.
Wir haben es mit der schrecklichen Lage in Gaza zu tun, mit Putins Krieg in der Ukraine, der existenziellen Bedrohung durch den Klimawandel, obszöner und wachsender Einkommens- und Vermögensungleichheit, Angriffen auf unsere Demokratie und die Rechte von Frauen, einem Anstieg von Fanatismus und Intoleranz, nie dagewesenen Bedrohungen durch künstliche Intelligenz, einem nicht funktionierenden Gesundheitssystem, einer riesigen Steigerung von Militärausgaben und vielen andern Problemen.
Und, oh ja, mit Donald Trump – der jeden Tag rechter und extremer wird und in vielen Umfragen vorne steht, wenn es darum geht, wer der nächste Präsident der U
Steigerung von Militärausgaben und vielen andern Problemen.Und, oh ja, mit Donald Trump – der jeden Tag rechter und extremer wird und in vielen Umfragen vorne steht, wenn es darum geht, wer der nächste Präsident der USA wird. Es ist der Donald Trump, der kürzlich sagte, Migranten „vergiften das Blut unseres Landes“. Der Donald Trump, der Sprache benutzt, die an Adolf Hitler erinnert, wenn er seine politischen Gegner als „Würmer“ bezeichnet und verspricht „sie auszurotten“. Der Donald Trump, der den Sturm auf den US-Parlamentssitz Kapitol am 6. Januar 2021 mit „ein schöner Tag“ kommentierte.Derselbe Donald Trump, der den Superreichen massive Steuererleichterungen gewähren, Millionen von Menschen aus der Gesundheitsversorgung werfen will und sich weigert, die Realität des Klimawandels auch nur anzuerkennen.Was tun wir also angesichts all dieser Dinge? Wie können wir die US-amerikanische Bevölkerung gewinnen und sicherstellen, dass Trump nicht noch einmal gewählt wird? Wie sorgen wir für eine bessere Zukunft?Wir haben einige sehr ernste ProblemeNun, zunächst einmal sollten wir etwas Radikales tun: die Wahrheit sagen. Die Menschen in den USA sind Twitter-Nachrichten, leere politische Rhetorik und 30-Sekunden-Negativwerbung leid. Noch wichtiger: Sie sind einen vom Establishment unterstützten Status Quo leid, der sie in vielen Fällen ökonomisch schlechter dastehen lässt als ihre Eltern vor 50 Jahren. Verzweifelt wollen sie verstehen, warum wir heute an diesem Punkt sind und wie wir an einen besseren Punkt kommen können.Fangen wir also damit an. Wo stehen wir heute? Wie sieht die Realität aus, die viele US-Amerikaner:innen erleben?Heut leben mehr als 60 Prozent der Menschen dieses Landes unter enormen finanziellen Druck, während sie mit zu niedrigen Einkommen versuchen, von einem Gehaltscheck zum nächsten zu überleben. Diese Amerikaner:innen, die Mehrheit unserer Bevölkerung, arbeiten hart und kommen damit nicht weiter, und sie machen sich Sorgen, dass ihre Kinder noch weiter abgehängt werden als sie.Im reichsten Land der Erde haben wir heute die höchste Kinderarmutsrate fast aller bedeutenden Länder. Viele der Schulen, in die Kinder aus Familien mit niedrigem Einkommen gehen, sind personell und materiell schlecht ausgestattet. Das ist kein besonders guter Weg, um eine Zukunft mit gestärktem Wohlstand zu schaffen.Folgen der WohnungskriseAngesichts deutlich steigender Wohnkosten haben über 600.000 US-Amerikanerinnen kein Dach über dem Kopf. Millionen Familien aus der Arbeiterschicht geben mehr als sie sich leisten können für unerhört hohe Mieten aus. Ein Eigenheim ist für viele ein unerreichbarer Traum geworden. Viele junge Leute kommen in den Kellerräumen ihrer Eltern unter.Die Hälfte aller älteren Arbeiter:innen haben keine Ersparnisse oder Rentenansprüche, während sie sich Sorgen machen, was mit ihnen passiert, wenn sie in ihre „goldenen“ Jahre kommen. Werden sie sich verschreibungspflichtige Medikamente leisten oder ihre Wohnungen oder Häuser im Winter ausreichend heizen können? Werden sie in der Lage sein, ihren Kindern etwas zu vererben?Unser Gesundheitssystem funktioniert nicht. Obwohl wir pro Kopf weit mehr ausgeben als jedes andere Land, haben wir nicht genug Ärzt:innen, Krankenpflegekräfte oder Leute, die psychologische Unterstützung anbieten. Unsere Lebenserwartung geht zurück und 60.000 Menschen sterben jährlich, weil sie keinen Zugang zu ärztlicher Versorgung haben, wenn sie sie brauchen.Placeholder image-1Unser System der Kinderbetreuung, das unsere Kinder in den für sie wichtigsten Jahren versorgen soll, erfüllt seine Funktion nicht. Eltern aus der Arbeiterschicht finden keine guten Plätze, die Kosten für die Betreuung sind unerschwinglich und die Beschäftigten in der Branche stark unterbezahlt.Unsere jüngere Generation ist finanziell am Kämpfen. Viele arbeiten für unangemessene Bezahlung und mehr als 40 Millionen US-Amerikaner:innen verlassen Hochschule oder Universität tief verschuldet. Manchmal brauchen sie Jahrzehnte, um ihre Kredite zurückzuzahlen.In vielen Arbeitervierteln sind Verbrechen, Obdachlosigkeit, Sucht und Drogenüberdosen wachsende Probleme.Aber es gibt nicht nur schlechte NachrichtenIm vergangenen Jahr haben wir eine bedeutende Wiederbelebung der Gewerkschaftsbewegung erlebt: Amerikaner:innen aus der Arbeiterklasse kämpfen gegen eine noch nie so groß gewesene Habgier von Unternehmen. Angesichts steigender Gewinne und übertriebener Vergütungspakete für CEOs fordern die Arbeitnehmer:innen ihren gerechten Anteil.Seien es die in der Transportarbeitergewerkschaft Teamster und der Gewerkschaft der Automobilbranche United Auto Worker organisierten Arbeit:nehmerinnen, die jungen Leute bei Starbucks, Krankenpflegepersonal und Ärzt:innen oder Studierende an den Universitäten: Die Amerikaner:innen organisieren Gewerkschaften auf Graswurzelebene, streiken – und erzielen bedeutende Siege.In den vergangenen Jahren haben US-Präsident Joe Biden und die von uns, die mit ihm zusammenarbeiten, einige wichtige neue Gesetze beschlossen.Placeholder image-2Der mit 1,9 Billionen US-Dollar ausgestattete American Rescue Plan Act (ARPA) trug dazu bei, unsere Wirtschaft schneller wiederzubeleben als, angesichts der Tatsache, dass wir mit der schlimmsten Gesundheitskrise und dem schlimmsten Wirtschaftsabschwung seit 100 Jahren konfrontiert waren, möglich schien.Wir tätigten Investitionen in Rekordhöhe in den Wiederaufbau unserer maroden Infrastruktur, in den Breitbandausbau und in erneuerbare Energien. Wir beschlossen eine historisch bedeutende Ausweitung der Zuwendungen und Dienstleistungen für Gift ausgesetzten Veteranen. Wir begannen zudem endlich, etwas gegen die Gier der Pharmaindustrie zu tun. Wir begannen, die amerikanische Fertigungsindustrie wieder aufzubauen und verzeichneten in Sachen Beschäftigungswachstum die beiden stärksten Jahre in der Geschichte des Landes. Auch darf nicht vergessen werden, dass Joe Biden der erste US-Präsident war, der zur Unterstützung streikender Arbeitnehmer:innen an einer Streikpostenkette teilnahm und nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer:innen ermutigte, sich zu organisieren. Das sind gute Sachen. Aber reicht das? Auf keinen Fall.Wie es weitergehen mussEs muss noch viel mehr getan werden. Es ist wichtig, dass wir als Progressive eine Agenda präsentieren, für die Amerikaner stimmen wollen – nicht nur eine Person, gegen die sie stimmen sollen.Aber was für eine Agenda ist das? Es ist eine Agenda, die der Not, dem Stress und der Verzweiflung Rechnung trägt, die die Mehrheit unserer Bevölkerung erlebt, und einen Weg vorwärts aufzeigt, um ihr Leben zu verbessern. Es ist eine Agenda, die bereit ist, sich der Habgier der Oligarchen und der US-amerikanischen Unternehmenswelt entgegenzustellen.Es ist eine Agenda, die mutig den Reichtum und die Macht des einen Prozents konfrontiert und fordert, dass die Reichen anfangen, ihren fairen Anteil an Steuern bezahlen.Es ist eine Agenda, die künstliche Intelligenz für das Wohl aller Menschen nutzt, nicht nur der Besitzer großer Unternehmen.Es ist eine Agenda, die Hungerlöhnen in den USA ein Ende bereitet, es Arbeitnehmer:innen erleichtert, Gewerkschaften beizutreten und gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit sichert.Es ist eine Agenda, die Gesundheitsversorgung zu einem Menschenrecht macht und die unverschämt hohen Kosten für verschreibungspflichtige Medikamente in diesem Land erheblich senkt.Es ist eine Agenda, die allen jungen Menschen aus der Arbeiterschicht die Möglichkeit einer Hochschulausbildung eröffnet, ohne sich zu verschulden, und die unsere mangelhafte Kinderbetreuung grundlegend verbessert.Es ist eine Agenda, die Millionen gut bezahlter Jobs schaffen wird, während wir die Welt darin anführen, den Klimawandel zu bekämpfen und unser Energiesystem von fossilen Brennstoffen wegzuführen.Es ist eine Agenda, die den systematischen Rassismus bekämpft, der im ganzen Land vorherrscht, und unser nicht funktionierendes und rassistisches Kriminalrechtssystem grundlegend zu reformieren.Es ist eine Agenda, die die Militärausgaben kürzt, Krieg verhindert und die Diplomatie und internationale Zusammenarbeit unterstützt.Es ist eine Agenda, die zu einer umfassenden Einwanderungsreform führt und zu einem Weg zur Einbürgerung für Menschen ohne Papiere.Strategie für progressive PolitikEs ist klar, dass das nicht die Agenda des Establishments der Demokratischen Partei und ihrer vermögenden Wahlkampfspender ist. Sie wissen das. Ich weiß das. Was tun wir also? Wie sollte für uns als Progressive die politische Strategie für 2024 aussehen?Zunächst sollten wir mit all jenen zusammenarbeiten, denen klar ist, dass wir alles uns Mögliche tun müssen, um Donald Trump und seinen rechtspopulistischen Teil der Republikanischen Partei zu besiegen. Das ist nicht nur notwendig, weil er „schlimmer“ ist, sondern weil bei dieser Wahl nicht weniger als die Zukunft unserer Demokratie auf dem Spiel steht. Nicht nur müssen wir Präsident Biden wiederwählen. Wir müssen ihm ordentliche Mehrheiten im Repräsentantenhaus und im Senat verschaffen.Zweitens müssen wir auf Graswurzelebene offensiv über unsere progressive Agenda informieren und Leute mobilisieren. Die amerikanische Bevölkerung ist zutiefst unzufrieden mit dem wirtschaftlichen und politischen Status Quo. Die Menschen wollen Wandel, echten Wandel. Das bedeutet, wir müssen die Ärmel hochkrempeln und die harte Arbeit auf uns nehmen, neue Leute zu erreichen. Und das bedeutet, unbequeme Gespräche zu führen und die Menschen aufzufordern, sich uns anzuschließen, selbst wenn sie nicht in allen Fragen unserer Meinung sind. Wir müssen Menschen inspirieren, sich einzubringen. Das wird nicht einfach, aber darum muss es bei unserer progressiven Agenda gehen.Drittens müssen wir dem Präsidenten und seiner Regierung klar machen, dass wir erwarten, dass seine zweite Amtszeit weitaus progressiver sein wird als die erste. Er muss unmissverständlich der Habgier der Milliardärsklasse entgegentreten, deren Handeln unserem Land irreparablen Schaden zufügt, und sich für die Bedürfnisse der Arbeiterklasse einsetzen. Außerdem muss sein Wahlkampf diese fortschrittlichen Grundsätze widerspiegeln.In diesen schwierigen Zeiten ist es leicht, das Opfer von Verzweiflung und Zynismus zu werden. Man könnte sich leicht zum Nichtstun lähmen lassen, wenn man erkennt, dass es keine magischen Lösungen für die komplexen politischen Krisen gibt, vor denen wir stehen, und dass jeder Schritt vorwärts seine Schattenseiten und Kritiker hat.Aber wir haben wirklich keine Alternative: Wir müssen aufstehen und für das Land kämpfen, von dem wir wissen, was aus ihm werden könnte. Das ist nicht nur ein Kampf für unsere Generation oder für unsere Kinder und Enkelkinder – sondern für die Zukunft unserer Demokratie und unseren Planeten. Es ist nicht der Zeitpunkt, um aufzugeben.
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