Ist Evergrande die Abbrissbirne, die die chinesische Immobilienblase platzen lässt?

China Die chinesischen Behörden greifen beim zweitgrößten Immobilienunternehmen des Landes durch: Aber können sie damit den Fall Evergrandes aufhalten?
Häuser von Evergrande in der Millionenmetropole Huai’an (Oktober 2023): Die Krise des zweitgrößten chinesischen Bauunternehmens droht der chinesischen Wirtschaft großen Schaden zuzufügen
Häuser von Evergrande in der Millionenmetropole Huai’an (Oktober 2023): Die Krise des zweitgrößten chinesischen Bauunternehmens droht der chinesischen Wirtschaft großen Schaden zuzufügen

Foto: picture alliance/CFOTO

Evergrande, das zweitgrößte chinesische Bauunternehmen, trägt die Ambition schon im Namen: „Immer größer“ wollte es sein. Nun haben sich die Schwierigkeiten, in denen das Unternehmen seit einiger Zeit steckt, mit der Verhaftung seines Vorstandsvorsitzenden und Gründers, Hui Ka Yan, von einer Finanzkrise zu einem möglichen Wirtschaftskrimi ausgeweitet. Der Handel mit Evergrande-Aktien wurde am Dienstag wieder aufgenommen, nachdem er letzte Woche aufgrund von Medienberichten über Huis Festnahme ausgesetzt worden war. Analysten zufolge deuten die Anzeichen jedoch auf eine mögliche Liquidation des Unternehmens hin, was auch für die chinesische Wirtschaft drastische Folgen haben könnte.

„Die chinesische Regierung wollte mit ihren Maßnahmen in Bezug auf Evergrande den Markt stabilisieren“, sagt Professor Steve Tsang, Direktor des China Institute an der SOAS Universität in London. „Aber die Verhaftung von Hui wird die Situation für Evergrande und damit auch für den Immobiliensektor mit ziemlicher Sicherheit verschlechtern.“

Seit die Regulierungen im Immobiliensektor im Jahr 2020 verschärft wurden, sind Unternehmen, die etwa 40 Prozent der chinesischen Hausverkäufe ausmachen, in Verzug geraten. Ein weiteres großes Unternehmen, Country Garden, hat ebenfalls damit zu kämpfen, einen Zahlungsausfall zu vermeiden. Es droht ein gefährlicher Dominoeffekt.

Firmengründer Hui Ka Yan soll bald vor Gericht

„Country Garden ist ein ebenso großes Problem“ wie Evergrande, was die Gesundheit des chinesischen Immobiliensektors angeht, sagt Alicia Garcia-Herrero, Chefvolkswirtin für Asien-Pazifik bei der französischen Investmentbank Natixis. „Wenn die Umstrukturierung von Evergrande zu lange dauert, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Country Garden das Gleiche durchmachen muss, sehr hoch.“

Das Schicksal von Evergrande könnte sich bei einer Anhörung vor einem Gericht in Hongkong, die für den 30. Oktober angesetzt ist, klären. Der in Hongkong lebende Firmengründer Hui, dessen Name auf Mandarin Xu Jiayin lautet, wurde von seiner Großmutter in Henan aufgezogen. Er gründete Evergrande 1996 in Guangzhou und nahm riesige Kreditsummen auf, um das Unternehmen mit Tausenden von Bauprojekten in ganz China rasch zu vergrößern und 2009 an die Börse zu bringen. Im Juni besaß das Unternehmen Baugrundreserven von 190 Quadratkilometern.

Hui war zeitweise der drittreichste Mann Chinas. Sein persönliches Vermögen erreichte laut Forbes im Jahr 2019 einen Höchststand von mehr als 36 Milliarden US-Dollar, bevor es bis Anfang 2023 auf schätzungsweise 3,2 Milliarden US-Dollar sank. Die Probleme begannen im Jahr 2021. Angesichts der Bedenken der chinesischen Regierung über die hohe Verschuldung in der Immobilienbranche führte ein behördliches Eingreifen dazu, dass Evergrande nicht mehr in der Lage war, die Zinszahlungen für Schulden in Höhe von mehr als 300 Milliarden US-Dollar zu bedienen, was Chinas Wohnungsbausektor in eine Liquiditätskrise stürzte.

Ist Evergrande too big too fail?

Im August meldete Evergrande in den USA Konkurs an, um seine US-Vermögenswerte zu schützen, während das Unternehmen versuchte, seine Finanzen zu sanieren. Vergangenen Monat versäumte Hengda Real Estate, die wichtigste Tochter von Evergrande auf dem chinesischen Festland, Kapital- und Zinszahlungen auf eine Anleihe im Wert von 4 Milliarden Yuan. Im September wurden außerdem mehrere Mitarbeiter der Vermögensverwaltungseinheit von Evergrande in Shenzhen unter nicht näher bezeichneten Vorwürfen verhaftet.

Letzte Woche teilte Evergrande mit, dass gegen Hui wegen des Verdachts auf „illegale Straftaten“ ermittelt werde. Bloomberg berichtete später, dass er an einem „bestimmten“ Ort unter Polizeikontrolle stehe und verdächtigt werde, Vermögenswerte ins Ausland transferiert zu haben. Es ist nicht klar, ob Hui in „Hausarrest an einem bestimmten Ort“ festgehalten wurde – Chinas System der geheimen Inhaftierung, das es erlaubt, Personen bis zu sechs Monate ohne Anklage oder Zugang zu Anwälten und Familie festzuhalten.

Nach Angaben der Finanznachrichtenagentur Caixin wurden im vergangenen Monat auch zwei ehemalige Führungskräfte von Evergrande festgenommen. Der frühere Finanzchef Pan Darong und der frühere Vorstandsvorsitzende Xia Haijun waren im vergangenen Jahr nach einem Skandal um Einlagen in Höhe von 13,4 Milliarden Yuan (mehr als 1,5 Milliarden Euro), die als Sicherheit für Kredite Dritter verwendet wurden, zurückgetreten.

Anne Stevenson-Yang, Gründerin von J Capital Research, ist der Meinung, dass das chinesische System mitverantwortlich für die Turbulenzen von Evergrande sei. Yang sagt, Evergrande sei ein „unkontrollierbares Unternehmen“ gewesen: Die chinesischen Behörden seien daran gescheitert, es zu regulieren und zu kontrollieren, da es über mehrere Branchen und Regionen hinweg expandiert habe, „um möglichst viel Kapital einzusaugen“.

Anstatt die Branche zu regulieren und Normen für alle durchzusetzen, interveniert die chinesische Regierung „durch direkte Einmischung in die Angelegenheiten von Unternehmen und Einzelpersonen, und das ist sehr, sehr personal- und zeitaufwändig“, sagt Yang.

Wird jetzt nach Sündenböcken gesucht?

Alicia Garcia-Herrero glaubt nicht, dass die Verhaftungen von Hui und der anderen Führungskräfte nur dazu dienen, Sündenbocke zu schaffen. „Das wäre der Fall gewesen, wenn sie viel früher passiert wären. Ich denke, man wollte ihnen die Möglichkeit geben umzustrukturieren oder Vermögenswerte zu verkaufen. Sie haben viel versucht, aber nicht viel erreicht.“

Die Krise droht der chinesischen Wirtschaft großen Schaden zuzufügen. Der Immobiliensektor trägt bis zu 30 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt Chinas bei. Mindestens 100.000 Käufer nicht fertiggestellter Wohnungen sind bereits betroffen, seit Evergrande im Jahr 2021 in Schwierigkeiten geriet. „Das ist Teil des Schneeballsystems, das Evergrande seit 15 Jahren betreibt“, sagt Young.

Der Zusammenbruch von Evergrande würde nicht nur Wohnungskäufer treffen, sondern auch alle, die in den unzähligen anderen Geschäftsbereichen des Unternehmens investiert haben sowie die Beschäftigten in den nachgelagerten Branchen.

„Es gibt eine ganze Menge Auswirkungen zweiter Ordnung, wenn der Immobilienmarkt zittert – Stahl, Zement, Glas, Weißwaren, Aufzüge, Leute, die Autos kaufen, weil sie eine Wohnung in einer abgelegenen Gegend gekauft haben“, sagt Yang. „Als Nächstes werden die Steuereinnahmen auf lokaler Ebene sinken, die Beschäftigung wird zurückgehen – Baugewerbe und Verkaufsbüros sind zwei Schlüsselbereiche, auch Banken – und die Konjunktur wird allgemein zurückgehen. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass Covid die Wirtschaft zum Absturz gebracht hat und sie sich deshalb erholen kann. Eine Investitionsblase hat die Wirtschaft zum Absturz gebracht, und der Immobiliensektor ist der Hauptschuldige dafür.“

Helen Davidson und Amy Hawkins sind Korrespondentinnen des Guardian in China. Zu den Recherchen für diesen Artikel hat auch Chi-hui Lin beigetragen.

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Geschrieben von

Helen Davidson, Amy Hawkins | The Guardian

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