„Was wahr ist“ von Carolin Emcke: Die Katastrophe enträtseln

Ethik Carolin Emcke erörtert in „Was wahr ist“, wie man beim Erzählen über Gewalt und Klima der Wahrheit gerecht wird
Ausgabe 16/2024
Für Carolin Emcke stellt die scharfe Kritik an Klimaaktiven „verantwortungsloses Vorbereiten von Gewalt“ dar
Für Carolin Emcke stellt die scharfe Kritik an Klimaaktiven „verantwortungsloses Vorbereiten von Gewalt“ dar

Foto: Marlene Charlotte Limburg

In großen Lettern steht Was wahr ist auf dem schmalen Büchlein, das zwei Vorlesungen enthält, die Carolin Emcke vergangenen Sommer in Wuppertal gehalten hat. Weder Ausrufe- noch Fragezeichen schließen den Satz ab, vollkommen offen liegt er da. Schon hier zeigt sich die Umsicht der in Berlin lebenden Publizistin, die 2016 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt. In einer Zeit, in der die Komplexität der Welt kaum noch die eine Wahrheit zulässt, würde es an Hybris grenzen, ein demonstratives Ausrufezeichen hinter so eine Aussage zu setzen. Ihn als Frage zu formulieren, würde wiederum all die Affen füttern, die mit Fakes und Desinformation die Wirklichkeit torpedieren.

Die Philosophin sprach im Rahmen ihrer Poetikdozentur für faktuales Erzählen an der Bergischen Universität darüber, wie man über Gewalt und Klima schreibt. Mit Gewalt und ihren Folgen beschäftigt sie sich schon seit Jahrzehnten, viele Jahre war sie als Reporterin in Krisengebieten unterwegs. Die Klimakrise ist hingegen „erst in den letzten fünf bis zehn Jahren in meinen Fokus gerückt“, räumt sie im Vorwort ein. Ihren genauen Blick trübt das nicht.

Die zwei Vorlesungen sind ethische Interventionen in einer von Manipulation und Verschleierung, Agitation und Polarisierung zerrissenen Gegenwart, in der die eine Wahrheit von einer Vielzahl politischer Narrative abgelöst zu sein scheint. Zudem haben die Ereignisse seit dem 7. Oktober so manche Wahrheit auf den Kopf gestellt. Umso erfreulicher ist die Klarheit, mit der Emcke die Untiefen eines wahrhaften Erzählens vermisst.

Bei ihren Ausführungen zum Erzählen über Gewalt stützt sie sich auf die Erfahrungen, die sie in Ländern wie dem Irak oder Kolumbien gemacht hat. „Mein eigenes Schreiben im Kontext von Krieg und Gewalt war (und bleibt) erfüllt von den Zeugnissen von Überlebenden.“ Deren Berichte seien ausschlaggebend bei der Suche nach dem, was wahr ist. Dabei gelte es, sich mit den Dingen vertraut zu machen, als ob sie die eigenen wären, und sie zugleich als Erfahrung einer anderen Person auszuweisen. Dies sei leichter gesagt als getan, da das Ausmaß an Brutalität in Kriegsgebieten oft das Vorstellungsvermögen übersteige, weiß Emcke aus eigener Erfahrung. Der kognitive Widerstand, der sich da vor das unvorstellbare Grauen stellt, sei ein trügerischer Selbstschutz, der den Blick darauf, was wahr ist, versperre.

Zugleich dürfe nicht alles, was einem anvertraut wird, auch erzählt werden, warnt sie, zum Beispiel wenn die Veröffentlichung einer Aussage die erzählende Person in Gefahr bringt. „Wer ethisch erzählen will, muss schweigen können. Wer von Gewalterfahrungen anderer erzählen will, muss weglassen und verzichten können.“

Es ist ein schmaler Grat, auf dem dieses Erzählen stattfindet, denn nichtsdestotrotz braucht es all die Details, auf die man stößt. Es bedarf Mut, ästhetisch gegen das Totalitäre der Gewalt Position zu beziehen. Der Blick in den Abgrund ist zwingend, um die Menschen in der Geschichte zu verankern. Um zu erzählen, wer sie vor dem Krieg waren und wer sie in einer besseren Zukunft sein könnten. Denn nur so werde sichtbar, wie die Gewalt sie entmenschlicht und den Maßstab verschoben hat, was normativ wahr ist und sein sollte.

Das Erzählen über die Klimakrise zielt in die Zukunft, aber auch hier brauche es den Blick zurück, um zu begreifen, wer was zu verantworten hat. Schwieriger sei dennoch der kühne Blick von dem, was wahr ist, auf das, was wahr sein wird. Hier könne das wahrheitsgerechte Erzählen als Blick in die Glaskugel missverstanden werden. Zwar seien Prognosen und Modellierungen von vielen Variablen abhängig, „bestimmte physikalische Gesetze lassen sich (jedoch) nicht aushebeln“, hält Emcke dem entgegen. Aufgabe derjenigen, die davon erzählen, sei es, die Skalen und Zahlen der Klimaberechnungen in der Welt zu verorten und in (be)greifbare Handlungsoptionen zu übersetzen.

Erschwert werde dies von einem Spektakel der Verschleierung im politisch-medialen Feld. Statt uns ehrlich zu machen und unser eigenes Versagen zu reflektieren, empört sich die Mehrheit mit Springer und Co. über jene, die die fatalen Folgen unserer ignoranten Lebensführung anprangern. „Wir verrätseln unsere Katastrophe, um uns unsere Normalität nicht als permanente Irritation zumuten zu müssen“, beschrieb Jan Philipp Reemtsma dieses Phänomen.

Für Carolin Emcke geht die Verunglimpfung der Klimaaktiven eindeutig zu weit. „Was sich da Woche für Woche entlädt, wie da die Aktivist:innen kriminalisiert und dämonisiert werden, wie alle, die sich mit ihrer politischen, ihrer akademischen, ihrer publizistischen, ihrer performativen Kraft dem Klimaschutz verschrieben haben, wie da alle, die nicht etwas zerstören, sondern retten wollen, als mutmaßlich gefährliche Feinde konstruiert werden, ist nicht einfach politisch kontrovers, das ist nicht einfach rhetorisch scharfe Kritik oder Auseinandersetzung, das ist verantwortungsloses Vorbereiten von Gewalt.“

Zugleich kritisiert sie Teile der Klimaschützer, die sich in ideologischen Kämpfen verrannt hätten. Die Bewegung müsse ihr demokratisches Rüstzeug erweitern, sonst verliere sie Glaubwürdigkeit. Zudem appelliert sie, Klima nicht nur als unvermeidliche Katastrophe, sondern auch als Möglichkeit eines anderen, solidarischeren Lebens zu erzählen. Hier grenzt Emckes Vorstellung des faktualen Erzählens an Wunschdenken. Dass sich unter den Vorzeichen des Klimawandels tatsächlich die weltweite Solidarität gegen das Recht des Stärkeren durchsetzt, ist mindestens spekulativ. Hilfreicher ist dagegen ihr Appell, weniger belehrend aufzutreten, sonst „entwickelt niemand Lust, sich zu beteiligen“.

Eine kollektive Erzählung vom Klimaschutz müsse vielmehr durchlässig für Kritik und andere Ideen bleiben, damit sie einen Möglichkeitsraum öffnet und andere einlädt, mitzumachen. „Es braucht ein Erzählen, das gleichermaßen wahr und utopisch ist, das der Apokalypse und der Gewalt absagt und schreibend das begründet, was es herstellen will: Humanität.“ Nur dann stellen wir eines Tages fest, dass das, was einst utopisch schien, plötzlich wahr ist.

Was wahr ist: Über Gewalt und Klima Carolin Emcke Wallstein 2024, 122 S., 20 €

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