Gesetz zu sexualisierter Gewalt: Bremsen als Taktik

Missbrauch Die Koalition traut sich nicht an das Gesetz zu sexualisierter Gewalt – obwohl es fertig in der Schublade liegt
Ausgabe 14/2024
Nicht die besten Freunde: Bundesminister der Finanzen Christian Lindner (FDP) und Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/ Die Grünen)
Nicht die besten Freunde: Bundesminister der Finanzen Christian Lindner (FDP) und Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/ Die Grünen)

Foto: Imago/photothek

Im Januar der unter großer Medienaufmerksamkeit vorgestellte Bericht zur evangelischen Kirche, im Februar eher unterbelichtet die Erkenntnisse zum Bund deutscher Pfadfinder: Die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen scheint kein Ende zu nehmen. Und immer wieder bestätigt sich, was inzwischen allgemein bekannt sein sollte, dass es nämlich keinen einzigen gesellschaftlichen Bereich gibt, in dem es nicht zu Missbrauchsverhalten kommt. 17.704 Fälle von sexualisierter Gewalt wurden 2023 aktenkundig, die Dunkelziffer dürfte um eine Vielfaches höher sein. Genaues weiß man nicht, denn für die lange fällige und regelmäßig durchzuführende Dunkelfeldstudie waren im Haushalt 2023 zwar Mittel angemeldet, passiert ist aber noch nichts.

Das gilt auch für die rechtliche Absicherung des Amtes der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), das Kerstin Claus innehat. Schon ihr Vorgänger Johannes Rörig hatte sich daran die Zähne ausgebissen, im Koalitionsvertrag der Ampel immerhin war das sogenannte UBSKM-Gesetz in Aussicht gestellt worden. Es soll einerseits das Amt gesetzlich verankern und den dort angesiedelten Betroffenenrat und die Aufarbeitungskommission stärken. Die Unabhängige Beauftragte wäre Parlament und Bundesrat dann regelmäßig berichtspflichtig, was diese umgekehrt wiederum in Verantwortung nähme.

Das ebenfalls geplante Forschungszentrum könnte darüber hinaus endlich die Dunkelfeldforschung angehen, Konzepte zu Prävention und frühzeitiger Intervention entwickeln und geeignete Hilfsmaßnahmen anschieben. Nicht zuletzt warten die im Betroffenenrat versammelten ehrenamtlich arbeitenden Aktiven auf ein Gesetz, das den Betroffenen die Möglichkeit gibt, ihre individuelle Biografie zu verfolgen, zum Beispiel, indem sie Einsicht in ihre Jugendamtsakten erhalten und dabei auch beraten und begleitet werden. Denn gerade sexualisierte Gewalt in der Familie ist nach wie vor ein blinder Fleck im Aufarbeitungsgeschehen. Claus ist davon überzeugt, dass das staatliche Vorbild auch Druck auf andere Systeme wie etwa die Kirchen ausüben würde, die sich in dieser Hinsicht besonders zieren. Ein Gesetz schaffe aber auch die Rahmenbedingungen, um verbindliche Schutzkonzepte in bisher nicht erfassten Bereichen wie etwa der freien Jugendarbeit zu verankern.

Die Zeit drängt, so Betroffene

Doch obwohl das Gesetz fix und fertig in der Schublade liegt, geht seit Monaten nichts voran. Es befinde sich „in der Ressortabstimmung“, heißt es immer wieder, obwohl im Kabinett als auch unter Bundestagsabgeordneten weitgehende Einigkeit besteht, dass es kommen sollte. Und die Zeit drängt, denn wenn es nicht bald ins parlamentarische Verfahren eingespeist wird, wird es in dieser Legislaturperiode wieder nichts werden. Wer will schon mit einem so unappetitlichen Thema Wahlkampf machen?

Spekulieren darf man darüber, wo gebremst wird. Am Geld kann es eigentlich nicht liegen, denn der Etat von 11,7 Millionen Euro ist für 2024 bereits eingestellt und macht ohnehin kaum 0,1 Prozent des Volumens aus, über das das Familienministerium verfügt. Auch die neu zu errichtende Forschungsstelle ist mit lächerlichen 1,65 Millionen Euro berücksichtigt. Dass Familienministerin Lisa Paus (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) nach dem unwürdigen Gezerre um die Kindergrundsicherung nicht mehr beste Freunde werden, darf man zwar unterstellen, aber auch davon ausgehen, dass Lindner das Thema, wenn schon nicht Herzensangelegenheit, es doch auch nicht sabotieren will. Liberaler Furor hört beim Thema Kindesmissbrauch auf, sollte man meinen.

Die Vertreter:innen des Betroffenenrats haben für diese Verzögerungstaktik jedenfalls wenig Verständnis. Alles, was bisher passiert sei, so Tamara Luding, gehe auf das persönliche Engagement von Betroffenen zurück. Sie möchte nicht mehr vom Goodwill bestimmter Personen abhängig sein, wenn es um Akteneinsicht gehe oder um Unterstützungsleistungen. Manche Bundesländer, kritisiert Angela Marquard den Stillstand, überholten den Bund sogar mit gesetzlichen Maßnahmen. Es ist also hohe Zeit, dass die Missbrauchsbeauftragte ihren Kolleg:innen, die für Opferschutz, Datenschutz, die Polizei oder die Bundeswehr zuständig sind, rechtlich gleichgestellt und der Schutzbedarf von Kindern und Jugendlichen ernst genommen wird.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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