„Die Passagierin“ von Mieczysław Weinberg in München: Wenn die Stimmen verhallen

Bühne Die Bayerische Staatsoper zeigt Mieczysław Weinbergs Oper „Die Passagierin“ in gelungener Aktualisierung. Basierend auf dem gleichnamigen Roman der 2022 verstorbenen Zofia Posmysz erzählt sie vom Zusammentreffen von Tätern und Opfern des NS
Ausgabe 11/2024
Woran erinnert die strenge Ordnung dieser Tischreihen?
Woran erinnert die strenge Ordnung dieser Tischreihen?

Foto: Wilfried Hösl

Wenn die Stimmen der Shoah-Überlebenden verhallt sind, was dann? „Dann gehen wir zugrunde.“ So endet die Oper Die Passagierin, die in der Münchner Fassung den besten Beweis dafür liefert, dass Erinnern nicht davon abhängt. Sie löst sich von den Bildern des Grauens, ist kein in Musik gesetztes Mahnmal. Erinnern heißt hier nicht, in Ehrfurcht und Betroffenheit zu erstarren.

Fast hundertjährig starb 2022 die Polin Zofia Posmysz, deren autobiografischer Roman Pasażerka (1962) der Oper von Mieczysław Weinberg als Vorlage diente. Solange sie allen Premieren des Stücks beiwohnte, war es üblich, die Lagerszenen realistisch zu inszenieren. Jetzt macht Tobias Kratzer das Stück zur Parabel, die ihre Symbolik auf einem Schiff findet – etwa in dem Saal, dessen unendliche Tischreihen die brutale Ordnung der Baracken abbilden. Niemand trägt die Uniformen der Täter und der Opfer. Alle sind Passagiere.

„Die Passagierin“ entstand in der Sowjetunion

An Bord: Lisa und Walter, die etliche Jahre nach dem Krieg aus Deutschland auswandern wollen. Wie in Flitterwochen fühlen sie sich, bis Lisa glaubt, unter den Passagieren Marta zu erkennen. In Auschwitz war sie ihr begegnet. Marta, das Opfer, Lisa die SS-Aufseherin – was sie ihrem Mann verschwiegen hat. Die Liebe bricht. Oratorienhafter Sprechgesang. Rückblenden ins Lager verschmelzen mit dem Geschehen an Bord, auch im viel beeindruckenderen, hochdramatischen zweiten Teil.

Homoerotisch motiviert will Marta Lisa hörig machen. Sie ermöglicht ihr die Liebe zu dem Geiger Tadeusz. Der Lagerkommandant befiehlt ihm, einen Walzer zu spielen. Er spielt, doch statt des Walzers die Chaconne von Johann Sebastian Bach, Sinnbild des Widerstands. Tadeusz wird auf der Stelle ermordet. Die Überblendung des Tanzabends an Bord mit dem Konzert im Lager ist auch der grandiose musikalische Höhepunkt.

Kein Russisch mehr

Die Tonsprache der Opfer ist lyrisch, voller herrlicher Gesanglinien (Elena Tsallagova und Jacques Imbrailo als Marta und Taddeusz), die der Täterin und ihres Mannes formelhaft und kalt (Sophie Koch als Lisa, Charles Workman als Walter). Anschaulich und farbenreich der Orchestersound. Weinbergs Musik klingt nach Schostakowitsch, mit dem er eng befreundet war, ohne ihn zu plagiieren. Wie sein berühmter Freund litt er unter der ideologisch verhärteten sowjetischen Zensur. Weinberg und sein Librettist Alexander W. Medwedew versuchten sich anzupassen. Ein Chor tritt als moralische Instanz auf, das Erinnern steht nicht im Dienst der Wahrheit, sondern des „gesellschaftlichen Auftrags“. Die Zugeständnisse an die sowjetischen Auflagen waren erfolglos; die Oper wurde erstmals 2006 konzertant, 2010 dann auch szenisch aufgeführt, ihr Schöpfer selbst hat sie nie gehört.

Vieles haben der Regisseur und der russische Chefdirigent Vladimir Jurowski entfernt und korrigiert. Sie lassen nicht mehr wie im Original Russisch singen, sondern, wie in Wirklichkeit, Polnisch und Englisch, Jiddisch und Deutsch. Russische Nebenfiguren sind gestrichen. Die neue Fassung erlaubt außerdem Ambivalenzen. Dem Publikum bleibt nichts anderes übrig, als sich mit beiden Frauen zu identifizieren.

Und es gibt eine dritte Zeitebene: die Gegenwart. Die Rolle der alten Lisa ist mit einer Schauspielerin besetzt (Sibylle Maria Dordel). Erst hat sie die Urne mit Walters Asche im Arm, dann springt sie von Bord: Es ist das Trauma der verdrängten Schuld. Dieser Abend bietet mehr als nur eine Oper.

Die Passagierin Regie: Tobias Kratzer, Musik: Mieczysław Weinberg, Musikalische Leitung: Vladimir Jurowski Bayerische Staatsoper München

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