Georgien: Wir träumen schon Jahrhunderte lang

Beitrittskandidat Die Regierungspartei „Georgischer Traum“ folgt einem westkritisch chinafreundlichen Kurs. Bevor es in die EU geht, sollen Gesetze beschlossen werden, die LGBT-Propaganda und das Gendern verbieten
Ausgabe 13/2024
Georgiens Autobahnen werden durch die Europäische Union mitfinanziert
Georgiens Autobahnen werden durch die Europäische Union mitfinanziert

Foto: Imago/Pond5 Images

Nach Samtredia fahre ich, weil es eine durchschnittliche Kleinstadt im neuen EU-Beitrittskandidatenland Georgien ist, in der die rätselhafte Regierungspartei „Georgischer Traum“ dominiert. Die EU-Zustimmung liegt in Georgien bei 70 Prozent, die durch Samtredia führende Autobahn wird von der Europäischen Investitionsbank mitfinanziert. Der seit 2012 regierende „Georgische Traum“ fährt aber einen westkritischen, chinafreundlichen Kurs. Da Russland 2008 kurz in Georgien einmarschierte, kann man nur bedingt von einer „prorussischen“ Linie sprechen. Der „Georgische Traum“ lehnt die EU-Sanktionen gegen Russland ab und brachte im Vorjahr ein Gesetz gegen „ausländische Agenten“ ein, wie es in Russland schon gilt.

Samtredias Bürgermeister, Absolvent der hiesigen russischen Schule, wurde von 60 Prozent gewählt. Die nationalistische Opposition „Heim nach Europa“ ging leer aus. Das Schönste an der Stadt ist ihr Name. Die zwei Tankstellen beim Rathaus fördern nicht die Flanierkultur. Immerhin, auf der verglasten Terrasse eines neuen Vintage-Cafés liest der Chef ein sehr vergilbtes Buch. Aus einem rostroten Ex-Hotel schreit mit der dicht gehängten Wäsche von Abchasien-Vertriebenen die Armut. An einer Kreuzung treffe ich einen jovial plaudernden Popen, dessen Nase mal einen ziemlich tiefen Schnitt abbekommen hat. Er ist zum Interview bereit, als ich aber als Thema die EU angebe, rennt sein Dolmetscher weg: „Russland ist besser!“

In der Aula des Rathauses frage ich nach der Stadtverordnetenversammlung. Der nur Georgisch sprechende Security-Mann antwortet via Handy-Übersetzung: „Für Rentner geradeaus.“ Oben klopfe ich an die halb offene Tür eines engen Büros. Ein intellektueller Glatzkopf schaut sich im Computer Autos an, an der Wand hängt ein US-Certificate-of-Achievement mit seinem Namen. Beschan Gogia war 1991 – 1997 Samtredias Bürgermeister. Er werde bald 70, sei nicht mehr in der Politik, verstehe sich aber als Teil des Bürgermeister-Teams.

Kein Russisch mehr

Eine Stadtverordnete mit blonden Stirnfransen läuft herein, Manana Sirbiladze, 65. Sie war 1991 „die erste weibliche Abgeordnete“, jetzt ist sie beim „Georgischen Traum“ und gerät sofort in Fahrt. Beide betonen, dass sie seit Ewigkeiten kein Russisch mehr gesprochen hätten. Beide würden sich niemals der „Russischen Welt“ zurechnen, haben aber als orthodoxe Christen ähnliche kulturelle Präferenzen.

„Wir haben von der Freiheit geträumt“, ruft Manana Sirbiladze. „Wir Georgier träumen Jahrhundert für Jahrhundert.“ In der EU habe sich etwas verändert. Sie fürchte für ihre Enkelin, dass „eine Frau keine Frau mehr ist, mittleres Geschlecht, Elternteil 1, Elternteil 2.“ Das stehe im Widerspruch zur georgischen Verfassung. Im Westen habe sich „Ultraliberalismus“, ja „liberaler Faschismus“ breitgemacht. Das sage auch ihr Ministerpräsident.

Ex-Bürgermeister Gogia stimmt „halb“ zu. Die prowestlich-nationalistische Opposition um Ex-Präsident Micheil Saakaschwili nennt er diktatorisch, „die haben immer auf die Leute geschossen“, während er Georgiens einstigen Präsidenten Swiad Gamsachurdia, der hier in Westgeorgien 1993 einen Bürgerkrieg lostrat, erstaunlich milde beurteilt. Er habe diesen „echten Georgier“ persönlich gekannt. Während der drei Wintertage vor 31 Jahren, da die Swiadisten den Bahnknotenpunkt Samtredia hielten, war Gogia Bürgermeister. „Das war ein gewöhnlicher Krieg.“ Er habe sich neutral verhalten.

Und der Ukraine-Krieg?

Sirbiladze leugnet, dass Partei-Aktivisten 2022 Oppositionelle geschlagen hätten. Deren Losung „Heim nach Europa“ macht sie aber wütend: „Wir sind seit jeher in Europa daheim!“ Gogia pflichtet bei: „Ich bin Georgier, ich bin Europäer.“ Obwohl ihr „einige Sachen nicht gefallen“, ist Sirbiladze für den EU-Beitritt. „Vorher nehmen wir ein Gesetz an, das LGBT-Propaganda und Gendern verbietet. Beim Gesetz gegen ausländische Agenten haben wir nachgegeben. Das Gesetz war richtig, hätte aber allzu große Spannungen ausgelöst.“

Als sie vom Ukraine-Krieg sprechen, äußern sie dann doch ein wenig Verständnis für Russland. Sirbiladze schimpft: „Die tun so, als ob das nur Putin machen würde!“ Ich frage nicht nach, wer „die“ sind. Vermutlich „liberale Faschisten“.

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