„Die Stadt der Anderen“ von Patrícia Melo: Der Abstieg kann schnell gehen

Brasilien Patrícia Melo gehört zu den wichtigsten Stimmen Lateinamerikas. Ihr jüngster Roman erzählt vom Alltag in São Paulo
Ausgabe 11/2024
Sonnenuntergang über São Paulo, der größten Stadt Brasiliens
Sonnenuntergang über São Paulo, der größten Stadt Brasiliens

Foto: Imago/Pond5 Images

Schnell lernt der Straßenjunge Dido, der mit seinem Hund auf der Praça da Matriz im Zentrum von São Paulo schläft: „Für die Menschen, die auf der Straße leben, ist jeder Tag ein Tag zum Sterben.“ In ihrem neuen Roman Die Stadt der Anderen schreibt die brasilianische Autorin Patrícia Melo über Menschen, die tagtäglich ums nackte Überleben kämpfen.

Der junge Papiersammler Chilves, der sehnsüchtig auf die Luxusvillen am Stadtrand blickt und sich weigert, nur von Almosen zu träumen; seine 14-jährige Freundin Jéssica, die an ihre Zukunft glaubt; die schillernde Transfrau Glenda mit dem Narbengesicht; Farol Baixo, der Lügner, oder Iraquitan, genannt „der Schriftsteller“, der statt Lumpen Worte sammelt – sie alle hat eine andere Geschichte auf den Platz verschlagen.

Patrícia Melo ist eine der wichtigsten Stimmen der brasilianischen Gegenwartsliteratur und bekannt für ihre gut recherchierten, sozialkritischen Romane, in denen sie schonungslos Missstände in ihrem Heimatland anprangert. Hier erzählt sie von einer Parallelgesellschaft der Obdachlosen, in der die Info über eine „unerwartete Kältefront“ über Leben oder Tod entscheiden kann. Beschrieben wird ein Alltag, der geprägt ist von der Suche nach Essen und Schlafplatz, Gelegenheitsjobs, Drogen, sexueller Ausbeutung, Papierkrieg mit den Sozialbehörden und der allgegenwärtigen Gewalt, unter anderem durch brutale Polizeirazzien.

In einem Mosaik aus Vor- und Rückblenden fügt Melo die Geschichten ihrer Charaktere Stück für Stück zusammen. Konsequent spiegelt der Roman dabei formal die komplette Unberechenbarkeit des Lebens auf der Straße. Kaum ein Kapitelende ist ohne eine unerwartete Wendung: ein Tod, eine Verhaftung, eine Geburt, ein Racheakt. Ihren mit feinem psychologischen Gespür erdachten Charakteren erspart die Autorin nichts, weder Vergewaltigung, brutale Ausbeutung oder neben einem von der Polizei exekutierten Toten aufzuwachen.

Hoffnung auf den Rechtsstaat

Angesichts wachsender Wirtschaftskrise kann der Abstieg schnell gehen. Dabei hat der kranke, aus Venezuela eingewanderte Straßenreiniger Seno Chacoy nur seinen Job gemacht: die Obdachlosen mit Wasser zu bespritzen, um sie zu vertreiben. Er hätte sich dabei nicht von der Presse fotografieren lassen sollen. Das Thema Obdachlosigkeit durchdringt den Text und schlägt sich in sprachlichen Bildern nieder: Bis zu dem Tag, als Jéssicas Bruder getötet wurde, war ihre Mutter „eine Frau so stark wie die Betonblöcke gewesen, die sie jetzt unter die Viadukte stellten, um die Bettler fernzuhalten“, heißt es einmal. Im Gefängnis, in dem Gewalt seitens der Wärter und Mitinsassen an der Tagesordnung ist, bleibt Chilves nur Schlafen und Warten: „allerdings nur in Raten. Ein Auge musste stets offen bleiben. Wie auf der Straße.“

Melo erzählt von der Kriminalität und Gewalt in Brasiliens Großstädten. Die Gesellschaft, in der die Verbrechen verübt werden, sei „eine wichtige Protagonistin meiner Bücher“, sagte sie mal der Frankfurter Rundschau. Verlass ist auf nichts in dieser Gesellschaft. Höchstens darauf, dass Polizei und Drogendealer zusammenarbeiten, das Sozialsystem gnadenlos überfordert ist und die Zahl der Obdachlosen täglich steigt. Trotz allem ist der Roman ein Tribut an den menschlichen Willen zum Guten, an die Hoffnung auf den Rechtsstaat und journalistische Aufklärung, Solidarität als Mittel, die Lage zu verbessern. Ein Appell, nicht aufzuhören, von einer besseren Welt zu träumen und für sie zu kämpfen.

Patrícia Melo, 1962 in São Paulo geboren, veröffentlichte 1994 ihren ersten Roman und schrieb später Theaterstücke und Drehbücher. Sie bekam 2001 den wichtigsten brasilianischen Literaturpreis Premio Jabuti für ihren vierten Roman Inferno über einen Jungen aus dem Slum, der zum Drogenboss aufsteigt. In Deutschland erhielt Melo, die heute in Lugano in der Schweiz lebt, zweimal den Deutschen Krimipreis und den LiBeraturpreis. Melos Roman nimmt einen mit in Die Stadt der Anderen, ohne in die Falle des Voyeurismus zu tappen. Ihre Charaktere sind so verständlich, so eigen, so liebenswert, dass die Leserin längst verstanden hat, was der im Gefängnis politisierte Chilves angesichts der drohenden Räumung des besetzten Hauses dem bewaffneten Polizeiaufgebot übers Megafon entgegenschreit: „Wir sind Menschen.“

Die Stadt der Anderen Patrícia Melo Barbara Mesquita (Übers.), Unionsverlag 2024, 400 S., 26 €

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