Intimes Porträt einer Frau, die nochmal von vorn beginnt: Doris Knechts neuer Roman

Erzählung Autorin Doris Knecht erzählt in ihrem neuesten Roman „Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“ mit Humor und Tiefgang von einer Frau am Wendepunkt ihres Lebens
Ausgabe 45/2023
Doris Knecht zeichnet das zarte Porträt einer Frau
Doris Knecht zeichnet das zarte Porträt einer Frau

Foto: Heribert Corn

Als die Kinder ausziehen, muss die Erzählerin ihre Wohnung aufgeben, die sie sich nach der Trennung von ihrem Partner nicht mehr leisten kann. Eigentlich hasst sie nichts mehr als Veränderung, doch nun muss sie einen Schlussstrich unter ihr gewohntes Leben ziehen. Mit der Wohnung lässt sie zwanzig Jahre Familienleben, ihre Partnerschaft und das Aufwachsen ihrer Kinder hinter sich. Doch nicht nur das: Die neue Wohnung ist klein, die Dinge, die sie mitnehmen kann, müssen sorgfältig aussortiert werden. Sie muss entscheiden, was aufbewahrt und welche Teile der Vergangenheit ausgemistet werden.

Mit jedem zurückgelassenen Objekt verschwindet auch eine Erinnerung, aufbewahrt in den kleinen Dingen des Alltags: „Bei jeder CD, die mir einmal etwas bedeutet hat, weiß ich: Wenn ich sie jetzt einpacke und weggebe, gebe ich mit ihr auch die Erinnerung an ein Gefühl weg, und die Erinnerung selbst.“ Es sind Ausschnitte eines Daseins, bevor sie Mutter wurde: der rebellische Auszug aus dem katholischen Elternhaus, ungeheizte WGs, Reisen und Träume. Ein überbordendes Durcheinander, für das in der neuen Wohnung kein Raum bleibt. Mit dem Umzug wird ihr Leben auseinandergeschraubt, verschenkt und über Gebrauchsportale verkauft.

Doris Knecht zeichnet das intime und zutiefst ehrliche Porträt einer Frau, die mit Anfang 50 noch einmal von vorne beginnen muss, eine Erfahrung, die nur selten im Fokus der Literatur steht. Der Text weist autofiktionale Züge auf, immer wieder tritt Doris Knecht hinter der Ich-Erzählerin hervor. Das Resultat ist ein berührender Roman, der um die Frage kreist, was nach dem Rausch der Jahre eigentlich bleibt: „Ich hatte mal eine E-Gitarre. Ich fuhr mal einen alten VW-Bus. Ich war mal in Norwegen, mit vierzehn, als Au-Pair, einen Monat lang, aber vielleicht war es auch Dänemark. Es ist egal. Es ist alles so oder so nicht mehr wahr.“

In diesem Nachsinnen schwingt auch der Protest gegen eine Gesellschaft, die Frauen ab einem gewissen Alter nur noch die Rolle der Mutter zugesteht. Die Erzählerin weigert sich, das eigene Leben mit dem Auszug der Kinder enden zu lassen: „Wenn wir erst mal Kinder haben, sind wir Frauen in den Augen der anderen nichts mehr ohne sie. Wenn sie ausziehen, sollen wir trauern wie Witwen. Es ist egal, dass wir nicht nur Mütter sind, sondern auch Ärztinnen, Buchhalterinnen, Wissenschaftlerinnen, Bankberaterinnen, Sozialarbeiterinnen und Köchinnen.“

Die Erzählerin hingegen trauert nicht, sie richtet sich ein in ihrer neuen Identität, in der sie wieder ein eigener Mensch sein darf. Resignation und Überforderung, aber auch Humor und Stolz auf das Erreichte fließen in dieser wunderbar chaotischen Protagonistin zusammen. Unumwunden fordert sie die gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen ihres Alters heraus. Anders als ihre Eltern und ihre Schwestern auf dem Land erwartet sie nicht in glücklicher Ehe die ersten Enkelkinder. Stattdessen besucht sie eine Therapeutin, um die komplizierte Beziehung zu ihrer Familie aufzuarbeiten, hat keinen festen Beziehungsstatus in einem Freundeskreis voller Pärchen und trinkt gerne ein Glas Wein zu viel. Nebenher hat sie noch alleine zwei Kinder durch das Teenageralter gebracht und nun ins Erwachsenenleben entlassen. Doch für Frauen gelten andere Maßstäbe, all dies wird selbstverständlich von ihnen erwartet: „Nur spüre ich halt, wie wenig es zählt, dass ich all die Dinge, die sich mein Vater und meine Mutter untereinander aufteilten, alleine schaffe.“

Wie der neue Alltag schlussendlich aussieht? Ein Zimmer für sich allein wünscht sie sich, in dem sie sich ungestört dem Schreiben widmen kann. In einer kleinen Wohnung richtet sie sich ein solches Refugium ein. Sie schließt Frieden mit dem neuen Lebensabschnitt. Die Kinder bleiben häufige Gäste, hauptsächlich, um den Hund zu sehen. Doch nun kann sie sie nach dem Besuch wieder in ihr eigenes Leben entlassen und selbst leben wie eine Erwachsene. Ein schönes Ende.

Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe Doris Knecht Hanser Verlag 2023, 240 S., 24 €

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