Utopie gesucht

Wahlkampf Die Parteien streiten sich um altbewährte Themen. Was dabei fehlt, sind echte Utopien und neue Narrative, die eine Gegenkraft zu Angst und Hass sein können.

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Um Visionen ist es in Deutschland nicht sonderlich gut bestellt
Um Visionen ist es in Deutschland nicht sonderlich gut bestellt

Foto: Alexander Koerner/Getty Images

Eins steht schon vor der Bundestagswahl fest: Nicht wählen ist keine Option. In einer Zeit, in der Nationalismen in Deutschland und Europa erstarken, weltweit Autokratien entstehen, Kriege und Terror die täglichen Nachrichten beherrschen und die Demokratie längst nicht mehr selbstverständlich und unantastbar scheint, wäre es mehr als unverantwortlich, sich seiner Stimme zu enthalten.

Doch nach der Entscheidung, wählen zu gehen, bleibt die Frage, welche Alternativen stehen überhaupt zur Wahl. Betrachtet man den derzeitigen Wahlkampf aus der Perspektive einer jungen Generation, die sich ernsthaft Sorgen um die Zukunft macht, sucht man zwei Dinge vergeblich: Neue Ideen und die Leute, die sie verkörpern.

Ein Narrativ, in dem man sich wiederfindet

Die größte Wählergruppe bei der diesjährigen Bundestagswahl sind die Übersiebzigjährigen, dementsprechend werden auch die aktuellen Debatten geführt. Wie schön wäre eine Politik, die sich in ihren Forderungen nicht nach der Mehrheitsmacht einer bestimmten Gruppe richtet, sondern nach einer Vorstellung, wie die Welt von Morgen aussehen soll. Die ARD thematisiert das Nichtbeachten der jungen Wählergeneration im aktuellen Wahlkampf in der Sendung Überzeugt uns!, eine Wahlsendung speziell für die „Generation Y“. Hier werden vor allem Klischees über junge Leute wiederholt, deren Aufmerksamkeitsspanne angeblich maximal die Länge eines Katzen-Gifs überdauert und Jens Spahn erklärt der Jugend von heute, dass man zur Wahl eben auch hingehen muss, weil man auf facebook nämlich nicht wählen könne. Die Sendung hat ein berechtigtes Anliegen. Aber Fakt ist, die Generation der Unterdreißigjährigen braucht niemanden, der Ihnen erklärt, wie das Internet funktioniert. Was wenn sie einfach keine politischen Vertreter finden, die ihrer Lebensrealität gerecht werden? Um mit voller Überzeugung zur Wahl zu gehen, braucht es ein Narrativ, in dem man sich wiederfindet, eine Idee, die man als Ganzes unterstützt.

Dabei fängt es schon damit an, wer diese Leute sind, die künftig die Repräsentanten des Volkes im Bundestag sein wollen und wie sie sich selbst inszenieren. Da gibt es die eine Möglichkeit, es bleibt bei Merkel wie eh und je. Die Alternative, die die ehemals große linke Volkspartei bietet, ist Martin Schulz. Unabhängig von jeglicher Wertung der politischen Positionierung von Schulz und des Wahlprogramms, verkörpert dieser Kandidat als Figur auf der Polit-Bühne die Sozialdemokratie des letzten Jahrhunderts. Auch wenn es marginale Unterschiede und Modernisierungen im Vergleich zum Macho-Kanzler Schröder gibt, der Gestus, das Auftreten, die Art, wie über Themen gesprochen wird, das ist der gleiche männlich-joviale hart-aber-herzlich-Typus mit einem Hauch von Beamten-Trägheit, wie man ihn von der SPD der letzten Jahrzehnte kennt. Bloß, die Welt ist nicht die gleiche, die Anforderungen an ein deutsches Staatsoberhaupt sind nicht die gleichen. Wie soll sich eine Generation von jungen Menschen, für die Diversität Alltag ist, die viel selbstverständlicher die eigene Position in einem sozialen Gefüge und in der Weltordnung, das eigene Geschlecht, die eigenen Privilegien in einem Diskurs mitdenken und in Frage stellen, mit diesem Stereotyp identifizieren. Welche Person in der deutschen Politik wäre Hype-würdig?

Zukunftsmusik klingt anders

Diese Frage mag manchem als Oberflächlichkeit vorkommen, doch das greift viel zu kurz. Es spielt eine Rolle, wer der Mensch ist, der an der Spitze eines Staates steht und welche Weltanschauung er als öffentliche Figur verkörpert.

Wenn Jens Spahn die englischsprechenden Café-Hipster in Berlin beklagt, hat das auch nichts mit konkreten politischen Zielen zu tun, sonders er bekennt sich zu einem bestimmten Lifestyle und mit diesem zu einem Weltbild. In diesem Fall zu Provinzialität und Kulturkonservatismus. Für eine große Gruppe von jungen, urbanen, kosmopolitisch denkenden und lebenden Menschen ist diese Diskussion absurd. Und was fehlt ist eine Gegenfigur, ist eine neue Narration. Und was noch mehr fehlt, sind Utopien.

Was über die SPD gesagt wurde trifft dem Grunde nach – auf verschiedene Weise und in verschiedenem Ausmaß – auch auf Linke und Grüne zu. Die FDP scheint eine Marktlücke gewittert zu haben und gibt sich im Wahlkampf betont jung und hip. Die vom Postillon zurecht mit einer Parfumwerbekampagne verglichenen Plakate von Christian Lindner sind dann aber dennoch eher peinlich, selbst wenn man in Betracht ziehen würde, eine Partei zu wählen, die in besagter ARD-Sendung die Schuld an den astronomisch hohen Mieten in Innenstädten dem Umweltschutz zuschiebt. Zukunftsmusik klingt anders.

Was die Parteien eint, ist das Fehlen von neuen Ideen, die über den Tellerrand des Istzustandes hinausweisen. Renten, Löhne, Mietpreise, Zuwanderung, Klimaschutz, selbstverständlich sind das wichtige Themen. Aber die Art, wie darüber diskutiert wird, tut so, als wären das lauter Luxusprobleme und als ginge es darum, das Bestehende ein klein wenig auszubessern und zu justieren. Die Wahlprogramme enthalten Konzepte der Schadensbegrenzung. Sollen Alleinerziehende 2 Euro mehr im Monat haben? Sollen Arbeitslose ein klein wenig weniger arm sein? Soll Wohnraum ein klein wenig weniger unbezahlbar sein? Sollen Frauen ein bisschen weniger im Beruf benachteiligt werden? Sollen wir ein paar Menschen weniger im Mittelmeer ertrinken lassen? Sollen wir den Planeten ein klein wenig langsamer zerstören?

Im Zweifelsfall: Ja.

Aber eine Generation, vor der ein Leben voller Ungewissheiten liegt, die sich auf dauerhafte befristete und prekäre Beschäftigungen einstellt, auf stetigen Wandel, die nicht auf eine soziale Absicherung in der Zukunft vertraut, sich Sorgen um ihre freiheitlichen Grundrechte macht, aber nur wenn nicht ohnehin bald ein Atomkrieg die Erde verwüstet, können diese Forderungen keine Begeisterung hervorrufen.

Ein Gegengewicht gegen den Hass

Warum führen wir Diskussionen stets ex negativo, anstatt auf Grund der Annahme eines Zustandes, den wir erreichen wollen? Wie in einer Angststarre auf das Problem fokussiert, wagen wir gar nicht, in weitreichenden Schritten zu denken. Dabei könnte eine echte Utopie ein Gegengewicht gegen den Hass der Stunde sein.

In zahlreichen Publikationen wurde bereits eine Art linker Populismus gefordert, der den rechten Populisten entgegenzusetzen ist. Diese Forderung geht von Wählern aus, die nicht in der Lage sind, ein komplexes Problem zu verstehen. Dabei geht es vielleicht gar nicht um eine Komplexitätsreduzierung, sondern um eine tatsächliche Alternative. Die Rechten in Europa und der Welt haben folgenreiche Schritte gewagt, die mancher nicht für möglich gehalten hätte. Was wagen die Linken, die Demokraten, die Kosmopoliten?

Können wir jenseits der Fragen nach Diesel-Grenzwerten die Frage stellen, ob das Automobil in die Innenstädte der Zukunft gehört? Wo ist die Partei, die unser System der Lohnarbeit grundsätzlich in Frage stellt? Welche Alternativen könnte es geben? Wollen wir in einer Welt leben, in welcher Geschlecht noch eine Kategorie ist, in die wir Menschen unterteilen? Soll der Ort unserer Geburt auch künftig über unsere Rechte entscheiden? Welche Rolle soll die BRD in der internationalen Politik einnehmen? Was ist Europa? Wie kann politische Teilhabe aussehen? Welche Formen von Demokratie sind möglich?

Die Liste könnte viel länger sein und ganz anders aussehen. Eine echte Utopie, die der Versuch wäre, eine wirkliche Zukunftsperspektive zu entwickeln, wäre ein Bild, das Kräfte mobilisieren kann; eine positive Idee, etwas Schönes. Eine Hoffnung auf ist vielleicht die einzige Kraft, die es mit der Angst vor aufnehmen kann.

„I have a dream“, das waren machtvolle Worte. „Yes we can“, taugt zum Mantra. „Wir schaffen das“ fokussiert das Problem, es klingt anstrengend. Eine neue politische Kraft muss her, die das Problem erkennt, zu seiner Lösung aber nicht den Mörtel von Vorgestern auspackt, sondern einen neuen Ansatz, einen neuen Weg aufzeigt. Ein besseres System als unsere parlamentarische Demokratie haben wir bislang nicht gefunden. Doch wie lebt man Demokratie im dritten Jahrtausend?

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