„Non-Existent“ von Natalka Vorozhbyt am Theater Essen: Das Aufgeführte ist keine Fiktion

Bühne Drei Frauen fliehen aus der Ukraine. Nun zeigt das Theater Essen mit „Non-Existent“ von Natalka Vorozhbyt Szenen aus ihrem Leben im Exil. Ein Abend über die Komik der Fremde und die Sehnsucht nach dem verlorenen Zuhause
Müssen einander aushalten und unterstützen: Orysja (Sabine Osthoff), Marija (Ines Krug) und Daryna (Beritan Balcı)
Müssen einander aushalten und unterstützen: Orysja (Sabine Osthoff), Marija (Ines Krug) und Daryna (Beritan Balcı)

Foto: Nils Heck

„Beim Aufwachen am 24. Februar 2022 wurden Explosionen zu meinem Wecker“, so erinnert sich Oksana Zhuk an den Tag, als russische Truppen in die Ukraine einmarschierten. Genau zwei Jahre später steht sie auf der Bühne des Essener Schauspielhauses und richtet den Blick ins Publikum. Es ist ihre Geschichte, die Geschichte ihrer Mutter und Großmutter, die an diesem Abend inszeniert wird. Non-Existent, ein Auftragswerkder ukrainischen Autorin Natalka Vorozhbyt in der Regie von Andreas Merz-Raykov, erzählt vom Heimatverlust und davon, wie das Leben im Exil weitergeht und doch stillsteht.

Drei Frauen sind samt Kater (Jan Pröhl) aus der Ukraine geflüchtet und befinden sich nun in einer Großstadt irgendwo in Westeuropa. Großmutter Marija (Ines Krug) leidet an Demenz und kann sich die Zerstörung nicht vorstellen. Orysja (Sabine Osthoff), die Mutter, muss sie und ihre 15-jährige Tochter ständig ermahnen, ihr Leben im Exil fortzusetzen – aber auch sie sehnt sich nach der Heimat. Tochter Daryna (Beritan Balcı) träumt, geprägt von brutalen Videos aus dem Internet, davon, für ihr Land zu kämpfen. In der Schule findet sie keinen Anschluss, bis sie auf Alex (Lene Dax) trifft – einen trans Jungen, mit dem sie sich über Ängste austauschen kann.

Natalka Vorozhbyt setzt auf schwarzen Humor

Das Stück zeigt die Frauen in ihrem neuen Alltag. Dabei setzt Vorozhbyt auf schwarzen Humor und Situationskomik. Etwa wenn die verwirrte Marija schwärmend von einem 30 Jahre jüngeren Gärtner (Lene Dax) träumt – „Gott verzeih mir, das kann ich mir vorstellen“. Den Höhepunkt der Komödie bilden die Monologe des Katers, der unter einer PTBS leidet und durch Pröhls urkomische Verkörperung auf der Bühne zum Leben erwacht.

Doch die Momente der Heiterkeit werden immer wieder eingeholt von der bitteren Realität des Krieges. Im einen Moment wird verlegen gelacht, im nächsten herrscht Stille – der Wechsel von Ernst und Komik erzeugt eine rasante Erzählung, die aufwühlt. Diese funktioniert auf der schlichten Bühne (Veronika Bleffert) aufgrund der schauspielerischen Leistung aller Beteiligten. Ines Krug sticht heraus mit ihrer Verkörperung von Marija. Man sieht ihr die Verwirrtheit im leeren Gesichtsausdruck an, mit dem sie durch das Publikum sucht. Man ahnt die Überwältigung der neuen Lebensrealität, wenn sie weint.

„Alles ist überschattet vom Krieg“

Merz-Raykovs Inszenierung setzt auf Nahbarkeit, möchte realistisch wirken. Angefangen bei den unauffälligen Kostümen (Veronika Bleffert) bis zu den Sirenen und den Raketeneinschlagsgeräuschen, wenn Daryna sich ein Leben als Soldatin in russischer Gefangenschaft ausmalt. Diese Szenen brennen sich aufgrund ihrer verstörenden, echten Elemente ein. Grelle Lichter flackern, Donnergrollen hallt durch den Raum, dann der hohe Ton von Sirenen. Balcı atmet schnappartig und schildert erschreckend-realistische Kriegshandlungen. Die Botschaft von Merz-Raykov: Das Aufgeführte ist keine Fiktion.

Zur Verdeutlichung holt er die drei Frauen, von deren Leben das Stück inspiriert ist, Oksana Zhuk, Mariia Apostolova, Lidiia Hontariuk, auf die Bühne und macht sie zum Teil der Inszenierung. Immer wieder tauchen sie auf, tuscheln mit den Darsteller:innen, stimmen Lieder in ihrer Muttersprache an oder sitzen in der Ecke der Bühne an einem Tisch und schauen zu. Gegen Ende des Stücks hält Oksana, die Tochter, einen Monolog, in dem sie ihre Geschichte mit eigenen Worten erzählt. „Alles ist überschattet vom Krieg“, sagt sie und bringt ihre Lebensrealität der vergangenen zwei Jahre auf den Punkt.

Non-Existent Text: Natalka Vorozhbyt, Regie: Andreas Merz-Raykov Theater Essen

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