Schiffe versenken in Asien: Der Kampf gegen das Abwracken alter Frachter im Globalen Süden

Abfall Auf den Ozeanen herrscht Gesetzlosigkeit: Deswegen können Reedereien ihre alten Schiffe unter schlimmsten Bedingungen in Südasien verschrotten lassen. Doch eine Allianz aus ErmittlerInnen und JuristInnen will das ändern.
Ausgabe 43/2023
In Bangladesch werden Schiffe zerstückelt. Die Arbeiter – unter ihnen Kinder – haben nur Socken als „Schutzkleidung“
In Bangladesch werden Schiffe zerstückelt. Die Arbeiter – unter ihnen Kinder – haben nur Socken als „Schutzkleidung“

Fotos: Swinde Wiederhold

Fast alles, was uns gehört, war schon mal auf hoher See. Unsere Hosen, unser Schreibtisch, unser Kaffee. Auf dem Weg durchqueren sie die Ozeane mit maximal 30 km/h auf Massengutfrachtern und Containerschiffen – Ungetümen aus Zehntausenden Tonnen Stahl, groß wie Hochhäuser. Bleiben sie stecken, wie 2021 im Suezkanal, stockt auch unser Alltag. Liefern sie nach Plan, sind diese Frachter das ultimative Schmiermittel der globalen Konsum-Maschinerie: Sie bringen das Mobiltelefon aus China, das Hemd aus Indien, die Steinkohle aus Australien. 90 Prozent des weltweiten Warenverkehrs laufen über die Meere. Die Reedereien in Kopenhagen, Hamburg oder Athen machen damit ein Milliardengeschäft. Ein schmutziges.

New Blue Deal

Die Serie „Blue New Deal“ ist ein Projekt von drei freien ReporterInnen – Svenja Beller, Julia Lauter und Martin Theis – und einem Fotografen, Fabian Weiss. Im Freitag werden sie ein Jahr lang nach Lösungen suchen, die sowohl die Ozeane schützen als auch deren Potenzial nutzen, die Erderwärmung zu stoppen.

Alle Artikel zur Serie finden Sie unter freitag.de/blue-new-deal

Das Projekt wird vom European Journalism Centre (EJC) über den Solutions Journalism Accelerator finanziert. Dieser Fonds wird von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt. Alle Reisen werden kompensiert.

Denn nicht nur verursacht die internationale Schifffahrt jährlichen mehr Treibhausgas-Emissionen als Deutschland. Die Schiffe mit ihrer Asbestdämmung, den ölverseuchten Tanks und den mit giftigen Chemikalien ausgekleideten Motorräumen werden am Ende ihrer Laufzeit zu Müll. Und der soll möglichst schnell und billig verschwinden. „Das Abwracken der Schiffe an Bangladeschs Stränden kostet jeden Monat Menschenleben, es kostet uns Fischgründe und Mangrovenwälder“, sagt Rizwana Hasan, eine der einflussreichsten Umwelt- und Menschenrechtsanwältinnen des Landes: „Diese Branche befeuert die Korruption und höhlt unsere Demokratie aus.“

Das Abwracken westlicher Schiffe in Südasien nennt Hasan einen „Fall globaler Verlogenheit“, sie kämpft dagegen in Bangladesch. Aber auch an indischen und pakistanischen Stränden gibt es jedes Jahr Hunderte Fälle, die diese Praxis belegen: Die absolute Mehrheit der ausrangierten Handelsschiffe strandet am Ende ihrer Karriere in Südasien. Allein im vergangenen Jahr starben in Alang (Indien), Gadani (Pakistan) und Chittagong (Bangladesch) 16 Menschen. Weitere 33 wurden bei Unfällen zum Teil schwer verletzt.

Der Fall Georg Eide

Die Internationale Arbeitsorganisation nennt die Abwrackarbeiten einen der gefährlichsten Jobs der Welt. Das Wasser, die Strände und das Hinterland der Werften werden dabei mit Öl, Chemikalien und Asbest verseucht. Es sind Verbrechen an Umwelt und Menschen, die in den feinen Nachbarschaften in Amsterdam, Hamburg und Antwerpen beschlossen und an den Stränden Südasiens ausgeführt werden. Es sind Verbrechen, die sehr schwer zu beweisen sind. Ins Gefängnis musste dafür weltweit bisher nur ein Reeder: der Norweger Georg Eide.

Alles begann mit einem Brief ohne Absender, der im Sommer 2015 auf Ingvild Jenssens Schreibtisch in Brüssel landete. Sie ist politische Aktivistin, arbeitet seit fast 20 Jahren für die Organisation „Shipbreaking Platform“, eine internationale Koalition von Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften, die dafür kämpft, dass der Müll des globalen Seehandels nicht an den Stränden der ärmsten und korruptesten Nationen landet. Gemeinsam mit JuristInnen, GewerkschafterInnen und UmweltaktivistInnen aus Europa, Pakistan, Indien und Bangladesch sammelt Jenssen Daten und führt Prozesse, um das System der illegalen Abwrackung zu Fall zu bringen. Und manche ihrer Fälle beginnen mit anonymen Tipps.

Welche Abkommen regeln das Abwracken von Tankern?

(I) Die Basler Übereinkunft
Das Basler Abkommen wurde 1989 verabschiedet. Es soll den Export von Müll und Giftstoffen kontrollieren und insbesondere Entwicklungs- und Schwellenländer vor der Verklappung von Giftstoffen schützen. Da es das Schutzniveau des Hongkong-Abkommens übersteigt, wird es absehbar auch nach 2025 angewendet werden.

(II) Die EU-Abfallverordnung: Schiffe als Müll
Die Verordnung über die Verbringung von Abfällen wurde 2006 verabschiedet und ist die Umsetzung des Basler Abkommens in europäisches Recht. Die Verordnung regelt auch das Abwracken von Schiffen, da „ein Schiff (...) als Abfall eingestuft und gleichzeitig gemäß anderen internationalen Rechtsvorschriften als Schiff definiert sein kann“. Die Abfallverordnung deckt damit alle Fälle ab, die von der Schiffsrecycling-Verordnung nicht erfasst werden.

(III) Die Hongkong-Übereinkunft: der Favorit der Industrie
Das Hongkong-Abkommen wurde 2009 von der International Maritime Organization verabschiedet und enthält Vorgaben zum umweltgerechten und sicheren Abwracken von Seeschiffen. Die zwei wichtigsten: Jedes Schiff muss ein Register über alle an Bord befindlichen Gifte haben. Und Schiffe dürfen nur auf zertifizierten Werften, aber weiterhin auch am Strand verschrottet werden.

„In dem Brief stand, dass ein norwegischer Schwergutfrachter, der Eide Carrier, zum Abwracken nach Südasien verkauft worden sei“, erzählt Jenssen. Der Brief hatte einen deutschen Stempel, sie vermuteten einen Konkurrenten als Absender. Jenssen und ihr Team kontaktierten den Schiffseigner, die Eide Marine Eiendom AS, und teilten ihm mit, dass es illegal sei, das Schiff zum Abwracken nach Südasien zu exportieren – es verstößt gegen das Basler Übereinkommen und die EU-Abfallverordnung. Die Reederei erwiderte, das Schiff weiternutzen oder zur weiteren Nutzung verkaufen zu wollen. „Wir beschlossen, es im Auge zu behalten“, sagt Ingvild Jenssen. Zu diesem Zeitpunkt lag der Eide Carrier im Hafen von Høylandsbygd, auf einer Insel im Westen Norwegens. Es war das Problemschiff der Reederei: Der Schwergutfrachter lag damals schon seit acht Jahren ungenutzt an den Docks. Der Markt für diese Art von Frachter war zu dieser Zeit „nicht existent“, schreibt das Landgericht Gulating, die Instandhaltungskosten waren dagegen sehr real: rund 530.000 Euro pro Jahr. Etwas musste also passieren.

„Im Februar 2017 hören wir plötzlich in den Nachrichten, dass ein Schiff an der Westküste Norwegens treibt und eine Havarie befürchtet wird“, sagt Jenssen. Die Nachrichten sprachen von einem Schiff unter der Flagge der Komoren mit dem Namen Tide Carrier. „Und da klingelt es bei uns. Das ist unser Schiff!“, sagt Jenssen. Das E in „Eide“ war mit einem T überpinselt und der Frachter in einem neuen Land gemeldet worden. „Für uns ein klares Signal dafür, dass das Schiff auf dem Weg zur Verschrottung in Südasien ist.“ Diese Befürchtung teilten die AktivistInnen mit der Polizei. Die fand an Bord des Schiffes doppelte Unterlagen über die Seetüchtigkeit des Frachters. Offiziell sollte er nur zur Reparatur in den Oman gebracht werden, die gefundenen Papiere zeigten aber, dass er auf der letzten Fahrt nach Pakistan war.

Namenswechsel, Flaggenwechsel, Ölunfall

Der strauchelnde Tide Carrier wurde von der Marine gerettet und durfte Norwegen erst verlassen, als eine EU-zertifizierte Recycling-Anlage für ihn gefunden war. Bis der Frachter allerdings in der Türkei fachgerecht recycelt wurde, sollte es noch drei Jahre dauern, in denen es zu einem Namenswechsel (diesmal wurden ein paar mehr Buchstaben überpinselt, und das Schiff wurde zum „Harrier“), einem Flaggenwechsel (zum Inselstaat Palau) und einem Ölunfall vor der Küste von İzmir (rund 4,3 Millionen Euro Schaden) kam. Der Reeder Georg Eide wurde im März 2022 in Norwegen zu sechs Monaten Haft verurteilt, weil er seinen nutzlos gewordenen Frachter in Pakistan entsorgen wollte.

Er kam ins Gefängnis für etwas, das fast alle Reedereien Europas tun: 60 Prozent der Altschiffe von EU-Unternehmen (oder assoziierten Ländern wie Island, Liechtenstein, Norwegen oder der Schweiz) werden an südasiatischen Stränden abgewrackt. Denn das bringt der Schiffsbranche, die nach der Corona-Pandemie zwar von gestiegenen Frachtraten profitiert hat, aber derzeit wegen fallender Preise unter Druck steht, bares Geld: Der Eide Carrier wiegt leer etwa 20.000 Tonnen. Wie die meisten dieser großen Frachter besteht er zu etwa 80 Prozent aus Stahl. In Pakistan, Indien und Bangladesch bekommt man derzeit zwischen 520 und 600 Euro pro Tonne Stahl, in der Türkei noch bis zu 220 Euro, in der EU nur etwa 130 Euro. Im Fall des Eide Carrier ist das ein potenzieller Preisunterschied von rund 7,5 Millionen Euro. Recycelter Stahl wird in der EU weniger nachgefragt, die Wiederverwertung ist wegen Umwelt- und Arbeitsschutzauflagen nicht annähernd so rentabel wie in Südasien. In EU-zertifizierten Anlagen werden die Entsorgungskosten für giftige Abfälle wie Asbest einberechnet.

Das Gift aus dem Schrott im Essen der Menschen

Bei besonders belasteten Schiffen wie Erdöl- oder Erdgas-Tankern müssen die VerkäuferInnen beim EU-Recycling bis zu doppelt so viel zahlen, wie sie in Bangladesch, Indien oder Pakistan für den Schrott bekommen hätten. Darum floriert das Geschäft mit dem Umwelt- und Menschenrechtsverbrechen. Oder, wie Ingvild Jenssen von der Shipbreaking Platform sagt: „Je höher die Profite, desto schlimmer die Werft.“

Das Ergebnis zeigt sich in Chittagong, Bangladesch. 21 Kilometer lang ist der Strandabschnitt im Norden der Hafenstadt, an dem die schrottreifen Frachter bei Flut mit Volldampf auf den Strand fahren, um in ihre Einzelteile zerstückelt zu werden. Nirgendwo auf der Welt wurden in den vergangenen drei Jahren mehr Ozeanriesen abgewrackt. Seit 2020 haben rund 20.000 Arbeiter mehr als 520 Schiffe zerlegt – meist in Handarbeit, ohne Schutzausrüstung, für weniger als vier Euro Lohn pro Tag. Männer und Jungen, viele von ihnen aus dem armen Norden des Landes, erklimmen die riesigen Schiffe über Strickleitern, räumen die Frachter leer und zerlegen die großen Stahlplatten in kleinere Stücke, dann die Isolierungen, die Leitungen, Tanks, Motoren, bis zur letzten Schraube. Stahl ist dabei das einträglichste Material, und Bangladesch braucht Stahl: Ohne den Rohstoff gibt es keine neuen Gebäude, Maschinen, Autos. Ein Report der Weltbank schätzte 2010, dass die Hälfte des im Land verwendeten Stahls aus der Abwrack-Industrie stammte, ExpertInnen gehen derzeit von etwa 40 Prozent aus.

Arbeiter zerlegen Schiffe in Dhaka, Bangladesch

Auch die Einrichtungsgegenstände, Plastikteile und Kabel der Schiffe landen auf den lokalen Märkten, wo sie weiterverarbeitet und verkauft werden. Mit dabei: Asbestplatten und giftiger Müll, oft versteckt in Isolierungen, Lacken und Farben. Die Weltbank schätzt, dass bis 2030 rund 79.000 Tonnen Asbest, 240.000 Tonnen krebsauslösende Chlorverbindungen (PCB), 69.200 Tonnen giftige Farben und Lacke sowie 678 Tonnen Schwermetalle in die bangladeschische Umwelt gelangen werden. Der Schiffsschrott wird oft auch in der Nähe von Äckern verarbeitet, die freigesetzten Gifte gelangen so auf die Teller und in die Körper von Menschen, die nichts mit den Werften zu tun haben.

Was die Werftarbeiter erzählen

Wie es derzeit ganz genau in den Anlagen in Chittagong aussieht, ist schwer zu sagen: Die Werften sind nicht öffentlich zugänglich und verwehren unabhängigen Organisationen und JournalistInnen den Zugang. AktivistInnen der Vereinigung der Umweltanwälte Bangladesch, die Teil der internationalen Shipbreaking Platform ist, fahren den Strand in der Nähe der Werften regelmäßig mit Booten an und sprechen mit Arbeitern, um einen Eindruck von den Verhältnissen zu gewinnen.

In einem gerade veröffentlichten Report kommen sie anonymisiert zu Wort: „Das Schiff ist riesig“, sagt etwa der 26-jährige Ahmed, „wir zerschneiden es, während wir mit Strickleitern an der Seite hängen. Manchmal rutschen Arbeiter dabei ab und fallen viele Meter tief ins Wasser.“ Viele Interviewte berichten, dass sie ihre eigenen Socken als Handschuhe benutzten, um sich beim Schneiden von geschmolzenem Stahl nicht die Hände zu verbrennen. Verletzungen durch herabfallende Stahlbrocken, durch Explosionen und Feuer kommen nach Angaben der Arbeiter regelmäßig vor.

Erfolge im Kampf vor dem Obersten Gerichtshof Bangladeschs

Die bangladeschische Regierung kalkuliert, dass rund 18.000 Arbeiter in der Abwrack-Industrie tätig sind. „Die genaue Zahl werden wir nie erfahren, denn die Arbeiter bekommen keine Verträge, und die Überwachung durch das Arbeitsministerium ist sehr schwach. Kommt es also zu einem Unfall, sagt der Werfteigentümer einfach: Diesen Arbeiter kenne ich nicht“, erklärt Rizwana Hasan. Die Anwältin setzt sich seit Jahrzehnten für die Rechte der ArbeiterInnen ein, vertritt durch Unfälle und Asbest Geschädigte und kämpft vor dem Obersten Gerichtshof Bangladeschs gegen Umweltverbrechen an der Küste ihrer Heimat. Dank ihrem Austausch mit AktivistInnen wie Ingvild Jenssen weiß sie oft im Voraus, wann besonders giftige Schiffe die Küste von Bangladesch ansteuern – und versucht, deren Einfahrt mit juristischen Mitteln zu verhindern. Manchmal gelingt das, wie 2006 bei der MT Alfaship, der SS Norway und der MT Enterprise oder 2017 beim Schiff North Sea Producer – sie mussten vor der Küste Bangladeschs umkehren.

Noch öfter scheitern die AktivistInnen allerdings, dann bleibt ihnen nur noch, die angelandeten Schiffe zu dokumentieren und die Listen an die Ermittlungsbehörden in Europa zu schicken. „Zur Hochzeit zwischen 2016 und 2017 waren es 148 Schiffe aus Deutschland“, sagt Hasan.

Die kurze Schließung der Werften in Chittagong

Ihre Arbeit geht aber weit über Einzelfälle hinaus: 2009 führte eine ihrer Klagen dazu, dass der Oberste Gerichtshof von Bangladesch die Schließung aller Abwrackwerften in Chittagong anordnete. Nach zweimonatiger Schließung öffneten sie allerdings wieder, mit unvollständigen Genehmigungen und ohne Besserung. „Papier ist geduldig“, sagt Hasan. „Wir haben in Bangladesch Gesetze zum Schutz der ArbeitnehmerInnen und der Umwelt, die aber aufgrund schwacher Institutionen und des Drucks der Industrie ausgehebelt werden.“ Hasan gilt als eine der führenden Stimmen für Umweltschutz in Bangladesch und erfuhr dafür internationale Anerkennung (zum Beispiel mit dem „Grünen Nobelpreis“), wurde aber auch angegriffen, wie zuletzt im Januar 2023, als sie und ihr Team bei einem Termin in Chittagong nicht nur mit Messern bedroht, sondern auch mit Steinen beworfen wurden. „Ich bin durch meine Prominenz besser geschützt, aber meine MitarbeiterInnen und die Menschen, die unsere Hilfe suchen, nicht. Sie werden angegangen und von der Polizei drangsaliert. Um ihre Sicherheit mache ich mir große Sorgen.“

Um die Zustände in den Werften Südasiens zu verbessern, rang die International Maritime Organization (IMO) seit 2009 um Mehrheiten für das sogenannte Hongkong-Übereinkommen, das die globalen Standards für den Umgang mit den giftigen Resten der Welthandelsflotte anheben soll. Seit Juli 2023 sind genügend Länder bereit, das Übereinkommen mitzutragen, 2025 wird das Abkommen in Kraft treten. Das sei ein großer Schritt für die maritime Wirtschaft, sagt der Verband Deutscher Reeder (VDR) auf Anfrage. „Wir halten das Hongkong-Übereinkommen für das einzig wirksame Instrument, um in Südasien und weltweit einen tatsächlichen Wandel auf den Recyclingwerften herbeizuführen.“ Man sei sicher, dass sich die Standards auf den Recyclingwerften durch das Hongkong-Übereinkommen „positiv verändern“ werden.

Das grundlegende Problem des Hongkong-Übereinkommens: Es erlaubt, dass Schiffe weiterhin am Strand ausgeschlachtet werden. Mit all den Folgen für Mensch und Umwelt vor Ort.

Teil der Lösung: EU-Verordnung 1257/2013

Das Abkommen sei schlicht Greenwashing, sagt Rizwana Hasan: „Die einflussreichen internationalen Reedereien wollten, dass das Geschäft in unserem Teil der Welt bleibt, und das Abkommen erlaubt es ihnen, einige der bangladeschischen Abwrackwerften als grün zu zertifizieren. Uns zeigt das nur, dass dem Leben der ArbeiterInnen und der Umwelt in Bangladesch weniger Wert beigemessen wird als Menschen in Europa.“ Die Zeit drängt, etwas zu verändern. Denn das Klima wird heißer, der Meeresspiegel steigt, das Risiko von Überschwemmungen nimmt zu, und mit jeder Überflutung der Abwrackwerften verteilen sich die Gifte weiter an Land und im Meer.

Die Nummer 1257/2013 ist ein Teil der Lösung. Es ist die EU-Verordnung über das Recycling von Schiffen. Sie soll die Lücke schließen, die das Hongkong-Abkommen lässt – dafür sorgen, dass die alten Kähne nicht mehr an den südasiatischen Stränden verschrottet werden. Die EU-Verordnung setzt strenge Standards für Umweltverträglichkeit und Sicherheit beim Schiffsrecycling. Sie schränkt den Einbau und die Verwendung von gefährlichen Stoffen wie Asbest ein. Und sie schreibt vor, dass europäische Schiffseigner ihre Schiffe nur in Einrichtungen recyceln dürfen, die den Standards genügen – das sind 47 Anlagen in Europa und der Türkei. Damit geht die Verordnung weit über das Hongkong-Übereinkommen hinaus.

Die deutsche Handelsflotte in den Farben Antiguas

Allerdings: Verordnung 1257/2013 ist seit fünf Jahren in Kraft. Und trotzdem werden nur etwa sieben Prozent der Schiffe von europäischen Reedereien in der EU recycelt. Denn es gibt einen Trick, er nennt sich „Umflaggung“. Schon zu ihren aktiven Zeiten fahren die meisten Schiffe der europäischen Flotte unter der Flagge eines Nicht-EU-Staates. Mehr als die Hälfte der deutschen Handelsflotte fährt derzeit etwa unter der Flagge von Liberia oder der des Karibikstaates Antigua und Barbuda – Länder mit weniger strengen Regulierungen. Die restliche knappe Hälfte der europäischen Schiffe verschwindet am Ende ihrer Laufzeit aus den Büchern der Reedereien in Portugal, Malta oder Zypern und taucht kurz darauf unter den Flaggen von St. Kitts und Nevis, den Komoren oder Palau wieder auf.

Schmutz, Staub, Verletzungsgefahr: Die Arbeiter hier arbeiten unter prekärsten Bedingungen

Der einflussreiche VDR rechtfertigt das so: Die weltweite Nachfrage nach Schiffsabwrackungen werde sich bis 2036 verfünffachen, in Bezug auf die europäische Handelsflotte sogar verachtfachen. Die von der EU zertifizierten Anlagen könnten diesen Andrang nicht bewältigen, deshalb brauche es „erhebliche zusätzliche Kapazitäten außerhalb der EU“. Diese Rechnung ist umstritten, die NGO „Transport & Environment“ konnte in ihrem Bericht keine Kapazitätsmängel feststellen und wurde darin von der Europäischen Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs bestätigt. Dabei würde selbst eine gute Begründung das Verbrechen nicht rechtfertigen.

Ein Schlupfloch im Gesetz

Im Gegenteil: Die Umweltkriminalität sei „gleichermaßen wie die Betäubungskriminalität dadurch gekennzeichnet, dass die Täter in hohem Maße konspirativ vorgehen und zahlreiche Aktivitäten zur Verschleierung ihrer tatsächlichen Absichten unternehmen“, schreibt der Hamburger Oberstaatsanwalt Michael Elsner über das illegale Schiffsrecycling. Kurz: Wenn es um ihren Müll geht, verhalten sich europäischen Reeder nicht besser als Drogenschmuggler. Sie wissen, dass das, was sie tun, illegal ist – und verwenden viel Energie darauf, es weiterhin tun zu können. Das Problem ist die mangelnde Strafverfolgung. Aber das ändert sich gerade. Im August 2021 durchsuchen 70 ErmittlerInnen Bürogebäude unter anderem der Erck Rickmers GmbH & Cie. KG an der Hamburger Außenalster, es geht um drei Schiffe, die am Strand von Pakistan geendet sind, die sichergestellten Beweise werden noch ausgewertet.

Im April 2022 wird gegen eine Reederei aus Rendsburg, Medienberichten zufolge die Peter Döhle Schiffahrts-KG, wegen des Verdachts auf Verschrottung von Schiffen im außereuropäischen Ausland das Hauptverfahren eröffnet. Im September 2023 wird in Hamburg ein weiteres Verfahren gegen die Reederei Döhle eröffnet: Deren CS Discovery wurde nach Angaben der Staatsanwaltschaft illegal am Strand von Alang in Indien verschrottet. Die ErmittlerInnen müssen den Reedereien nachweisen, dass sie die Entscheidung zur Verschrottung getroffen haben, bevor die Schiffe europäische Gewässer verlassen haben. Die zähen Verfahren basieren auf der Europäischen Verordnung zur Abfallverbringung (Nummer 1013/2006): Weil die alten Frachter juristisch als Müll gelten, wird ihre letzte Fahrt raus aus der EU als illegaler Müllexport gewertet.

Mächtige Gegner: Europas Reeder

Doch das Schlupfloch der Umflaggung, das die Verordnung zum Schiffsrecycling den Reedereien lässt, ist so groß, dass die Haftbarkeit für Schrottschiffe im Chaos von Zwischenhändlern und Briefkastenfirmen unterzugehen droht. Auf Anfrage des Freitag heißt es aus der EU-Kommission, die Verordnung werde derzeit evaluiert, um die Gesetzeslücken so bald wie möglich zu schließen. Das wird aber noch viele Jahre dauern. Und es gibt mächtige Gegner: die europäischen Reedereien.

Rizwana Hasan, die Anwältin, feiert die von der EU gesetzten Standards und die aktuellen Verfahren in Europa als großen Erfolg. Ihr oberstes Ziel sei aber noch immer weit entfernt. „Wir wollen, dass westliche Abfälle endlich von westlichen Ländern entsorgt werden“, so Hasan, „wir wollen unsere Strände zurück.“ Solange das nicht erreicht sei, wolle sie gegen jeden alten Frachter kämpfen, der die Küste Bangladeschs ansteuert.

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Geschrieben von

Julia Lauter

Freie Autorin

Julia Lauter studierte Philosophie und Politikwissenschaften in Tübingen. Sie arbeitete während ihres Studiums u.a. für die Heinrich-Böll-Stiftung, für das Goethe-Institut Mumbai und im Bundestag. Nach ihrem Volontariat beim Greenpeace Magazin arbeitet sie seit 2017 als freie Journalistin und Autorin mit einem Schwerpunkt auf Wissenschaftsreports und Longreads. Ihre Texte wurden mehrfach ausgezeichnet. Sie lebt und arbeitet in Hamburg und im Piemont.

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