Anarchie, oder: Leben ohne Herrschaft – Eine Erinnerung an Karin und Bernd Kramer

Kolumne Der Karin Kramer Verlag Berlin hat das libertäre Erbe der 68er gepflegt – seit zehn Jahren gibt es ihn nicht mehr. Die Welt von heute ist eine andere. Müssten wir nicht gerade jetzt – im Chaos – über Anarchie reden?
Ausgabe 15/2024
Karin und Bernd Kramer: Zwei Anarchisten voller guter Ideen
Karin und Bernd Kramer: Zwei Anarchisten voller guter Ideen

Foto: Karin Kramer und Bernd Kramer/Karin Kramer Verlag Berlin 2003

Seine letzten Tage verbrachte der anarchistische Verleger Bernd Kramer in einem katholischen Pflegeheim in Berlin-Neukölln. Der Tumor im Kopf war austherapiert. Freunde hatten dem 74-Jährigen aus seiner Wohnung einen Flatscreen gebracht und sich und ihn gefragt, wo denn das fabrikneue Gerät herkam. Der alte Kramer aber konnte sich nicht erinnern. „Ist auch egal“, rief er vom Bett aus. „Das Ding bleibt hier. Nur über meine Leiche!“ Das war der letzte Witz, der von Bernd Kramer kolportiert ist, und nicht alle waren gut. Aber Ideen hatte der Mann! Demnächst erscheinen seine eigenen Texte noch einmal im Quiqueg Verlag.

Gemeinsam mit seinem Autor Thomas Kapielski stellte Bernd Kramer den Antrag an die UNESCO, dass seine Kreuzberger Lieblingskneipe „Zum Goldenen Hahn“ in die Liste deutscher Kulturdenkmäler aufgenommen wird. Für diese Aktion bekam der bekennende Tresenphilosoph eine Einladung in die WDR-Talkshow Wat is?, wo ein Jürgen von der Lippe vor der Sendung nie wusste, wen er als Gäste begrüßen dürfte. Leider nur hatte Bernd Kramer dem Antwortbrief ein Verlagsprospekt beigelegt, darin Titel von Bakunin, Kropotkin und natürlich Emma Goldman! Leben ohne Chef und Staat, das war dann doch zu viel Gesprächsstoff.

Die Ausladung folgte prompt. Bernd Kramer nahm es gelassen, so wie er jetzt den baldigen Tod in Ruhe hinnahm. Seine Frau Karin, die dem Verlag Namen und Profil gegeben hatte, war ein halbes Jahr zuvor, am 20. März 2014, gestorben. Den Karin Kramer Verlag Berlin, der das libertäre Erbe der 68er gepflegt hatte, gibt es seit nunmehr zehn Jahren nicht mehr.

Die Welt von heute ist eine andere, und ich wüsste zu gern, was meine früheren Verleger dazu gesagt hätten. Müssten wir nicht gerade jetzt – im Chaos – über Anarchie reden? Über ein Leben ohne Herrschaft! Nur: Was passiert, wenn staatliche Gewalt in private Gewalt umschlägt? Wer schützt mich dann? Aber vor allem: Wie hätten Karin und Bernd über Putins Krieg gegen die Ukraine gedacht? Im Spanischen Bürgerkrieg haben die Anarchisten die Republik verteidigt, obwohl sie den Staat abgelehnt haben – nachzulesen in den Büchern des Karin Kramer Verlags.

Und was ist mit dem Staat Israel, als Zufluchtsort für Juden und Jüdinnen aus aller Welt? Und Gaza? Überhaupt, die Zeit wird knapp! Eine Klimarettung ohne staatliche Maßnahmen, wie soll das gehen? – Die Fragen bleiben. Und dennoch, Karin und Bernd Kramer haben in ihrem Leben einige Hunderttausend libertäre Schmöker unter die Leute gebracht. In das eine oder andere Buch davon sollte man ruhig wieder reinschauen.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Karsten Krampitz

Historiker, Schriftsteller

Avatar

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden