Wenn Obdachlose ein Haus besetzen, wird es kompliziert

Wohnungsnot In Berlin haben Obdachlose ein leerstehendes Haus besetzt. Ähnliche Aktionen gab es auch früher schon. Die Aktivisten sollten aus diesen Erfahrungen lernen. Denn ein Dach über dem Kopf löst nicht alle Probleme
Ausgabe 02/2022
Das besetzte Haus in der Habersaathstraße, Berlin
Das besetzte Haus in der Habersaathstraße, Berlin

Foto: Bernd Friedel/Imago

In der Habersaathstraße in Berlin-Mitte haben Obdachlose und linke Aktivisten kurz vor Weihnachten ein leerstehendes Haus besetzt. Bislang ging alles gut. Das Leben könne so einfach sein, schrieb dazu die Autorin und Aktivistin Bini Adamczak im Internet, „es gibt Menschen ohne Wohnungen und Wohnungen ohne Menschen. Die Lösung des Problems liegt auf der Hand bzw. auf der Straße.“

Als hätte es solche Aktionen noch nie gegeben. Vielleicht ist das Leben manchmal etwas komplizierter und widersprüchlicher als in der Wahrnehmung einiger Vordenker:innen. Vor 30 Jahren haben Berliner Obdachlose auf dem Hegelplatz in Mitte (wo heute übrigens die Freitag-Redaktion zu Hause ist) zwei Wohncontainer besetzt. Die taz schrieb darüber am 29. Januar 1992: „Nach langen Verhandlungen mit Wohnungsbaugesellschaften, Stadträten und der Sozialsenatorin räumten die Besetzer die Container und zogen in ein Haus in der Rhinstraße in Lichtenberg. Dort leben sie seitdem auf acht Etagen, überwiegend in Zweibettzimmern, betreut von vier Sozialarbeitern.“ Dieses Haus, ein ehemaliges Arbeiterwohnheim, sah genauso aus wie der besagte Wohnblock in der Habersaathstraße. Und schon damals haben sich Obdachlose (80 an der Zahl, unter ihnen aber nur zwei Frauen) in Selbstverwaltung geübt. Ein Sprecherrat war gewählt, der sich jeden Dienstag traf und Probleme diskutierte.

Doch das Hausprojekt der Unbedachten währte nicht lange. Stichworte sind: Suff, Prügelei, Verwahrlosung. Die seelischen und suchtbedingten Probleme, die zuvor zum sozialen Absturz der Männer geführt hatten, all die Psychosen und individuellen Schuldgeschichten, mit denen sie sich jahrelang gequält hatten, waren mit der Aktion nicht weg; die Obdachlosen brachten ihre Probleme mit in die Gemeinschaft, die daran zerbrach.

Die Aktivisten von heute sollten dringend Hermann Pfahler kontaktieren, den Sprecher der Landesarmutskonferenz Berlin. Als leitender Sozialarbeiter des Diakonischen Werkes hat er seinerzeit das Hausprojekt Rhinstraße begleitet. Aus den Fehlern wird er gelernt haben oder sich wenigstens erinnern.

Nicht, dass es auf diesem Gebiet keine Erfolgsgeschichten gäbe: Vor nun mehr als 50 Jahren wurde am Mariannenplatz in Kreuzberg ein ehemaliges Schwesternwohnheim besetzt. Unlängst interviewte die taz drei der damaligen Besetzer, die unter anderem von den Trebegängern erzählten, die für Streit und Chaos sorgten. Dass das Hausprojekt noch heute existiert, ist auch der sozialen Mischung geschuldet. In das Georg-von-Rauch-Haus sind nicht nur Obdachlose eingezogen.

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Geschrieben von

Karsten Krampitz

Historiker, Schriftsteller

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