Lampedusa zeigt: Menschlichkeit ist zu einem sehr dehnbaren Begriff geworden

Meinung Wer darf bleiben, wer muss gehen? In der Migrationsdebatte gehen zivilisatorische Errungenschaften verloren
Ausgabe 39/2023
Miganten auf Lampedusa
Miganten auf Lampedusa

Foto: Alessandro Serrano/AFP/Getty Images

Vielleicht hat Katrin Göring-Eckardt in einem Gastbeitrag die richtigen Worte gefunden, als die Grünen-Politikerin schrieb: „Wer meint, die Grenzen gegen Schutzsuchende dichtmachen zu müssen, aber gleichzeitig um die vietnamesische Pflegekraft oder die indische IT-Fachkraft wirbt, der verkennt, dass Deutschland in der Welt nur ein Gesicht hat. Es ist ein freundliches oder eine Fratze.“

Nun ließe sich über die Grünen räsonieren, die als Partei gegenwärtig kein gutes Korrektiv in der Migrationsdebatte sind, auch wenn Robert Habeck zumindest zugibt, in was für einem moralischen Dilemma er seine Partei weiß. Aber darum geht es hier nicht. Denn auch Katrin Göring-Eckardt schreibt bereits im übernächsten Satz: „Wer nicht hierbleiben darf, der muss wieder zurück.“

Wer darf bleiben, wer muss gehen? Die Beantwortung dieser Frage entscheidet darüber, ob wir uns endgültig von jenem Leitmotiv moralischen Tuns verabschieden, das Immanuel Kant als kategorischen Imperativ formulierte: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Wäre die Maxime im Umgang mit allen Menschen gegenwärtig jene, die bei Geflüchteten angewendet wird, bliebe den meisten von uns nur die Flucht.

SPD-Chefin Saskia Esken betonte in einem Interview: „Menschen ohne Fluchtgründe müssen zügig zurückgeführt werden.“ Bleibt man einen Moment bei dem Gedanken, stellt sich die Frage, warum so viele davon überzeugt sind, dass sich Menschen ohne Grund aufmachen, um ihre Heimat, den Ort, an dem sie leben und überleben wollen, zu verlassen. Wie stellen wir uns einen Menschen vor, der grundlos eine lebensgefährliche Flucht auf sich nimmt, um woanders – nicht willkommen – neu anzufangen oder mindestens sein Leben zu fristen?

Zweierlei Maßstäbe

Saskia Esken wird sich darauf berufen können, dass es einen Kriterienkatalog gibt, in dem geschrieben steht, was als Notlage und demzufolge als Fluchtgrund anerkannt ist. Und was wir als sicheren Ort definieren, ohne Gefahr für Leib und Leben, ohne Verfolgung und mit ausreichenden natürlichen und sozialen Ressourcen, um sich und seine Angehörigen am Leben zu halten.

Dieser Katalog misst nicht mit den ansonsten geltenden Maßstäben, wie sie für die eigenen Staatsbürger*innen gelten. Stattdessen mit ganz anderem Maß. Einem Maß, das keine Politikerin und kein Politiker bereit ist, an die Wähler*innen anzulegen.

Was als Not gilt – also jener Zustand, in dem Hilfe geboten, gesetzlich verankert und zum unveräußerlichen Recht erklärt wird –, ist eine gesellschaftliche Übereinkunft, die in Gesetze gegossen, in Regeln festgeschrieben und mit Hilfs- und Rettungsmaßnahmen unterlegt worden ist. Man kann dies als eine zivilisatorische Errungenschaft betrachten, die sich im besten Fall auf die vor 75 Jahren beschlossene Allgemeine Erklärung der Menschenrechte beruft.

Wenn wir auf einem Foto EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen mit perfekt gestylter Frisur vor den erbarmungswürdigen Hinterlassenschaften der auf Lampedusa gestrandeten Flüchtlinge stehen sehen – jener, die nicht ertrunken oder durch Pushbacks in ihr Elend zurückgeschickt worden sind –, dann wäre es gut, sich zu vergegenwärtigen, dass Menschlichkeit ein überdehnter Begriff geworden ist. Dem die Grundübereinkunft in diesen Tagen einmal mehr abhandenkommt. Leider muss man für diesen Befund nicht einmal auf den Katholiken Markus Söder oder den Rassisten Björn Höcke verweisen.

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