Putsch-Aspiranten auf Betriebstemperatur

Buch Polarisierte US-Gesellschaft: Klaus Brinkbäumer und Stephan Lamby liefern mit „Im Wahn“ einen journalistischen Hintergrundbericht der beiden letzten Trump-Jahre

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Sturm aufs Kapitol am 6. Januar: „Im Wahn“ von Klaus Brinkbäumer und Stephan Lamby liest sich wie die politische Vorgeschichte
Sturm aufs Kapitol am 6. Januar: „Im Wahn“ von Klaus Brinkbäumer und Stephan Lamby liest sich wie die politische Vorgeschichte

Foto: Samuel Corum/Getty Images

Politische Bücher haben ihre eigenen Zeitfenster – etwa Wahlen. Noch zur Jahreswende sah es so aus, als sei die Präsidentschaft von Donald Trump Geschichte: ein irrationales, von Interruptionen geprägtes Intermezzo, das – wie ein auf die Politik übertragenes Film-Happy-End – einen halbwegs glimpflichen Ausgang nahm. Was nach dem 3. November noch anfangen mit einem Buchtitel, der sich im Wesentlichen auf die zweite Hälfte von Trumps Regentschaft kapriziert, und der trotz des Wahl-nahen Erscheinungsdatums nicht mehr ganz brandaktuell sein kann? Dann kam der 6. Januar. Der von Trump befeuerte Sturm seiner Anhänger aufs Kapitol hat nicht nur gezeigt, dass diese Präsidentschaft und ihre Folgen bei weitem noch nicht ausgestanden sind. Zumindest rückblickend hat auch Im Wahn. Die amerikanische Katastrophe von Klaus Brinkbäumer und Stephan Lamby eine rasante Bedeutungsänderung erfahren. Erschien die Thematik noch Ende 2020 wie Schnee von gestern, als Stoff für US-Unentwegte, liest sie sich nunmehr wie die politische Chronologie jener Ereignisse, welche aktuell die Schlagzeilen bestimmen.

Was tun? Obwohl die Deadline von »Im Wahn« im Sommer war und lediglich das Epilog-Kapitel zum Wahlausgang aufschließt, sollte man das Buch nicht vorschnell als inaktuell abtun. Ex-Spiegel-Chef Brinkbäumer und sein ZEIT-Kollege Lamby liefern zwar nicht die Tiefenanalyse zum aktuellen Stand der US-Gesellschaft. Wobei die Frage im Raum steht, ob eine solche noch subtanziell Neues zu sagen hätte – siehe etwa »Der tiefe Graben« von Ezra Klein oder auch die kleinteilig-soziologischen Analysen von Torben Lütjen (siehe hier und hier). Auch auf die Personalia-Ebene abzielender Gossip der Marke Bolton und Mary L. Trump wird hier nicht bedient. Ab setzt sich Im Wahn schließlich auch von den eher aufs Breitenpublikum zielenden US-Erklärtiteln des ARD-Kollegen Ingo Zamperoni. Während Zamperonis Bücher ein allgemeines Stimmungsbild der USA unter Trump liefern, rücken Brinkbäumer und Lamby strikt den politischen Betrieb ins Zentrum. Im Blickpunkt stehen vor allem die beiden letzten Trump Jahre – von 2019 bis zum Sommer, zum Höhepunkt der „Black Lives Matter“-Demonstrationen. Kurzum: Im Wahn ist nicht mehr und nicht weniger als ein politischer Report – eine ereignisbezogene, wenn auch mit narrativen Mitteln erzählte Chronik des US-amerikanischen Politik- und Medienbetriebs.

Die gewählte Darstellungsart hat Vor- und Nachteile. Am nächsten kommt Im Wahn dem Metier der langen, Spot an Spot aneinander reihenden Hintergrundreportage. Wie die meisten Reportagen hat auch diese einen Dreh- und Angelpunkt – ein Zentrum, von dem ausgehend sich alles weitere erschließt: im konkreten Fall das von den Demokraten angestrengte Impeachmentverfahren 2019/2020. Um die »Breaking News« der Ukraine-Affaire herum gruppieren sich die restlichen Negativ-Highlights der Trump-Präsidentschaft: das kalkulierte, gleichwohl stetige Vorpreschen in Sachen Bau einer Mauer zu Mexiko, die permanente Aufmunitionierung der zwischen Hofberichterstattung und Agitation changierenden rechtskonservativen Alternativmedien (vor allem: Fox News), die an Schärfe zunehmenden „Fake-News“-Kampagnen, das zunehmend erratische, egozentrische Agieren auf fast allen politischen Feldern und schließlich der immer enthemmtere, die Wirklichkeit ignorierende Ton des amtierenden Präsidenten.

Die Schilderung des fortlaufenden Geschehens ist unterlegt mit Kommentaren zahlreicher Akteure. Wie sehen die das, welche Beurteilung geben sie ab? Die Auswahl akzentuiert einerseits stark auf US-amerikanische Medien-Professionals – beispielsweise die CNN-Journalisten Jim Acosta und Chris Cuomo. Ebenfalls zu Wort kommen die Akteure der Gegenseite – etwa Sebastian Gorka, ehemaliger Breitbart-Redakteur und bis Sommer 2017 aktiv im Beraterstab von Donald Trump, oder die Aktivistin und Fox-Radiotalkerin Laura Ingraham. Um Einschätzungen gebeten wurden darüber hinaus Akteure aus dem politwissenschaftlichen, historischen sowie im weiteren Sinn kulturellen Betrieb wie zum Beispiel Anne Applebaum, Jill Lepore oder der Thriller-Autor Don Winslow. Im letzten Buchdrittel schließlich verdichtet sich die Darstellung merklich. Die Themen nehmen an Fahrt auf; ante portas stehen: der bevorstehende Präsidentschaftswahlkampf, die Corona-Pandemie und schließlich, als weitere Eskalation, die „Black-Lives-Matter“-Proteste nach der tödlichen Polizei-Strangulierung des Afroamerikaners George Floyd.

Trotzdem – oder vielleicht: gerade deswegen – spürt man immer wieder, dass die Autoren allen Seiten gerecht zu werden versuchen. Beispiel: die Darstellung der Vorwahlkampagne des demokratischen Bewerbers Beto O'Rourke. Pleiten, Pech & Pannen finden auch bei den Demokraten statt – keine Frage. Am Ende gerät Im Wahn doch noch zu so etwas wie einem Sittenbild der gegenwärtigen US-Gesellschaft. Dominiert – oder besser: kontrastiert – wird die zwischen Wahn & Wirklichkeit changierende Entwicklung durch die immer erratischeren Handlungen des ersten Mannes im Weißen Haus. Motto: heute so, morgen so, und vor allem: Was scheren mich die Fakten? Am deutlichsten vielleicht wird dies durch die Zusammenstellung der Trump-Stellungnahmen zur Corona-Pandemie: ein für sich selbst sprechendes Zeugnis von Inkompetenz, Skrupellosigkeit und Desinteresse – während im Land die Zahlen der Toten und Infizierten nach oben schießen und alleingelassene Kommunal-Verantwortliche verzweifelt versuchen, gegenzutrimmen.

Fazit: Die reportageartige, sich von Schauplatz zu Schauplatz hangelnde Darstellungsform ist das größte Plus dieses Buchs. Wie im Zeitraffer führen Brinkbäumer und Lamby ihre Leser(innen) durch die zweite Halbzeit der Trump-Präsidentschaft. Rückblickend ergibt sich so eine Art Vorgeschichte zu der nochmals gesteigerten Dramaturgie, welche die Zeit seit den Wahlen im November prägte. Die Nachteile seien an der Stelle nicht unerwähnt: Die Fokussierung auf das Amtsenthebungsverfahren im Zug der Ukraine-Affaire mag thematisch nachvollziehbar sein. Andererseits hebt sie eine der vielen Grenzüberschreitungen von Donald Trump über Gebühr hinaus – während andere wie der forcierte Rassismus im Umfeld der lancierten »Mauerbau«-Kampagne oder die systemischen Attacken auf politische Gegner und Kritiker in die zweite Reihe treten. Kritisieren lässt sich schließlich auch die Fokus auf die politischen Institutionen als Hauptschauplatz und infolgedessen eine Vernachlässigung der Gesellschaft in ihrer Breite. Sicher so ein Buch, dass nicht „perfekt“ ist. Im Kern liest sich Im Wahn wie ein aktuelles Spiegel-Sonderheft. In dem Fall hätte es zwischen 150 und 200 Seiten (anstatt 392) und eine im Text fortlaufende Bebilderung (anstatt eines Bildteils).

Fazit: Ein fakten- und einschätzungsdurchtränkter Insider-Report zur derzeitigen US-Lage. Der thematisch gesehen fast gegessen war, durch die aktuelle Entwicklung jedoch eine neue Brisanz gewonnen hat.

Klaus Brinkbäumer, Stephan Lamby: Im Wahn. Die amerikanische Katastrophe. C. H. Beck, München. November 2020, 392 Seiten. 22,95 Euro. ISBN 978-3-406-75639-9.

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Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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