Gespräch über Krieg und Pazifismus: „Neo-Pragmatismus ist Ultrarelativismus“

Debatte Die Publizistin Elke Schmitter und der Philosoph Olaf Müller diskutierten im vergangenen Juni schon einmal über Pazifismus in Zeiten des Krieges. Wie damals versprochen, haben sie es jetzt nochmal getan. Was hat sich seitdem verändert?
Exklusiv für Abonnent:innen | Ausgabe 08/2023
August 2022: Der ukrainisch-orthodoxe Priester Andrii Halavin während einer Beerdigung in Butscha nach Ende der Besetzung durch russische Soldaten
August 2022: Der ukrainisch-orthodoxe Priester Andrii Halavin während einer Beerdigung in Butscha nach Ende der Besetzung durch russische Soldaten

Foto: Alexey Furman/Getty Images

Damals ging es im Konferenzraum des Freitag um unsere Zuschauerrolle in diesem elenden Krieg, um die Angst vor einer Eskalation, aber auch schon um Langstreckenwaffen, die der britische Premierminister Boris Johnson den Ukrainern liefern wollte – vor allem aber ging es um Pazifismus.

der Freitag: Ist die Frage nach dem Pazifismus heute noch so dringlich wie damals?

Elke Schmitter: Wir haben damals schon extreme Positionen abgeräumt, als Olaf Müller gesagt hat, ich bin ein Gelegenheits-Bellizist und finde, hier ist die Gelegenheit nicht die richtige.

Olaf Müller: Und ich habe hinzugefügt, sie ist fast nie die richtige.

Schmitter: Aber die andere Position ist noch da. Immer wieder wird ohne Beleg behauptet, es werde nicht verhandelt. Dabei gibt es ja Verhandlungen, die zum Beispiel zum Gefangenenaustausch führen. Aber nun gab es wieder einen offenen Brief von Alice Schwarzer, diesmal mit Sahra Wagenknecht, der in diesem Tenor verfasst ist.

Müller: Wissen wir, warum es nicht zu offiziellen Friedensverhandlungen kommt? Eine Hypothese besagt, dass die Ukrainer, von Boris Johnson angetrieben und durch westliche Waffenlieferungen verleitet, nicht weiterverhandeln wollen, weil sie glauben, später in einer besseren Position zu sein. Die andere Hypothese lautet, dass es an dem russischen Präsidenten Wladimir Putin liegt.

Schmitter: Ist das eine Beschwerde? Finden Sie es wirklich ungewöhnlich, dass wir in Zeiten des Krieges nicht bei Winston Churchill auf dem Schoß sitzen und wissen, was er mit Stalin bespricht? Im Übrigen habe ich noch nie etwas anderes gehört, als dass Putin nicht verhandelt. Er hat sich von Anfang an geweigert, mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj überhaupt nur zu sprechen. Er akzeptiert nur die Nato und die USA.

Putin will zu Bedingungen verhandeln, die für die Gegenseite unannehmbar sind. Umgekehrt hat Selenskyj in die Verfassung schreiben lassen, dass mit Russland unter Putin nicht verhandelt werden darf. Das Massaker von Butscha hat das unmöglich gemacht, sagt man.

Schmitter: Ja, Butscha hat etwas verändert. Nun konnte man nicht einmal mehr hypothetisch sagen, Russland besetzt ein Land, um es sozusagen heimzuholen. Von da an war klar, dass es um einen Vernichtungskrieg gegen die Zivilbevölkerung ging.

Müller: Folgt aus diesen Kriegsverbrechen, dass es keine Verhandlungen mit der russischen Seite geben kann? Das käme mir überzogen vor. Die Fortsetzung des Krieges dürfte zu noch viel schlimmeren Opfern auf der ukrainischen Seite führen.

Schmitter: Ist Ihre Annahme, es könnte mehr verhandelt werden, als tatsächlich verhandelt wird?

Selenskyj sagt klar, was die Bedingungen sind: Die Ukraine in den Grenzen von 1991. Bei Putin sind die Bedingungen weniger klar. Wie steht die deutsche Regierung zu diesen Bedingungen? Wie die Nato? Ich wüsste es gerne.

Schmitter: Ich stimme zu. Es steht uns aber nicht zu, der Ukraine Vorschriften zu machen.

Ich bin da bei Jürgen Habermas: die unermüdliche Beteuerung, die ukrainische Regierung „so lange wie nötig“ zu unterstützen, verschleiert Differenzen, die auf der Hand liegen.

Schmitter: Diese Differenzen diskutiert man womöglich aus strategischen Gründen nicht öffentlich. Wenn Deutschland spricht, wer spricht da? Da spricht die größte Volkswirtschaft, da spricht das politische wie das kulturelle Schwergewicht, und da spricht der Big Player in Europa, der sich seit dem Zweiten Weltkrieg aus guten Gründen militärisch zurückgehalten hat. Das Zermürbende an diesem Diskurs – ein Schritt vor, wieder einen zurück – hat ja auch eine außenpolitische Funktion.

Müller: Stimmt, dieses Tastende, Zögerliche dient löblicherweise dazu, niemanden unter unseren Nachbarn zu verschrecken. Aber es bedeutet halt auch, dass wir uns schleichend an Dinge gewöhnen, die immer weiter in eine besorgniserregende Richtung führen.

Schmitter: Entschuldigung, wir müssen uns an gar nichts gewöhnen. Aber die Ukrainer gewöhnen sich entweder an kaputte Krankenhäuser, kaputte Infrastruktur, kaputte Schulen und traumatisierte oder tote Leute oder daran, dass sie die Front wieder nach hinten ziehen. Eine andere Gewöhnung gibt es ja nicht.

Ich war vor vielen Jahren in der Westukraine. Da hat der Osten des Landes nicht interessiert. Und jetzt soll das heilige Erde sein, um die gekämpft wird, koste es, was es wolle, bis zum Dritten Weltkrieg. Das behagt mir nicht.

Müller: Ich möchte die Expertise von einem hohen Militär ins Spiel bringen, der sich vehement für Waffenlieferungen ausgesprochen hat. Der ehemalige Nato-General Hans-Lothar Domröse ist ein Haudegen der guten alten Schule; für ihn ist es Ehrensache: Man lässt die Ukraine nicht im Stich. Die Vize-Fraktionschefin der Grünen, Agnieszka Brugger, stimmte ihm zu und ergänzte im Brustton der Überzeugung, dass der Krieg durch Panzerlieferungen noch in diesem Jahr für die Ukraine zu entscheiden ist.

Ich erinnere mich, das war in einem dieser vielen „Spiegel“-Interviews, wo man Gleichgesinnte freundlich interviewte ...

Müller: In diesem Fall waren es vermeintliche Gleichgesinnte. Denn Domröse widersprach Bruggers Optimismus und prognostizierte einen langwierigen Abnutzungskrieg. Brugger ließ sich davon nicht beeindrucken, zeigte keinerlei Anzeichen kognitiver Dissonanz! Dabei hatte sie die Leo-Lieferungen mit der baldigen Kriegsentscheidung zugunsten der Ukraine begründet. Vielleicht sollte sie mehr auf die Expertise von Militärs hören?

Frau Schmitter, Ihre Seite glaubt, wenn wir die Russen nicht stoppen, wird sie durch ihre imperialen Phantomschmerzen immer weiter nach Westen vorrücken. Glauben Sie das auch?

Schmitter: Wir reden ja allesamt über etwas, was wir nicht wissen können. Das haben wir vor einem Jahr auch schon getan. Wir tun es trotzdem, weil Stummsein vielleicht noch dümmer macht, als man ohnehin schon ist.

Aber klüger sind wir auch nicht geworden?

Schmitter: Sagen wir so, im Grunde genommen haben wir dieselben Positionen wie damals. Da saß die Dritte-Weltkrieg-Angst, dort die Stellungskriegs-Angst und hier, von mir aus, die Dicke Berta. Und niemand von uns müsste jetzt widerrufen. Dass noch keine Atombombe gezündet wurde, heißt ja nicht, dass es nicht doch einmal geschehen könnte. Der Abnutzungskrieg ist da. Und dass es eine Drucksituation braucht, damit Russland verhandelt, ist auch nicht widerlegt.

Warum ziehen wir dann eine Position vor? Warum Sie die Ihre?

Schmitter: Solange die Parteien, die die Ukraine unterstützen, lediglich Material und Steuergeld riskieren, muss die ethische Verantwortung, auch die politische Führung von denen übernommen werden, bei denen es um Menschenleben geht. Solange die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung weiterkämpfen will, fände ich es anmaßend, wenn wir sagen würden: Es sterben jetzt so viele, lasst es!

Müller: Ich frage mich: Warum haben wir schon bei der Wirklichkeitsbetrachtung so verschiedene Positionen, obwohl wir uns bemühen, die Argumente des anderen zu hören und die Fakten im Blick zu haben? Vielleicht gibt der Neo-Pragmatismus darauf eine Antwort. Laut dieser philosophischen Theorie berücksichtigen wir bereits beim Blick auf die Wirklichkeit unsere Werte, Weltanschauungen, Menschenbilder; weil wir uns darin so sehr unterscheiden, gelangen wir auch zu unterschiedlichen Sichtweisen der Kriegswirklichkeit, der Verhandlungsoptionen und so weiter. Bei einem pragmatischen Pazifisten wie mir besteht diese Werthaltung im Glauben an das grundsätzlich Gute im Menschen. Demzufolge scheuen Menschen – selbst wenn sie russische Uniformen tragen – zunächst einmal davor zurück, wehrlose Zivilisten zu ermorden.

Schmitter: Genau das ist doch passiert!

Müller: Es gibt eine Studie des Katalanen Felip Daza Sierra, der bis Ende Juni 2022 in der Ukraine gewesen ist. Er hat systematisch nach Beispielen für erfolgreichen zivilen Widerstand gesucht.

Zu den Personen

Olaf Müller, geboren 1966, studierte Mathematik und Philosophie. Seit 2003 lehrt er Philosophie mit Schwerpunkt humanistische Wissenschaftsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Jüngst erschien von ihm der Reclam-Band Pazifismus. Eine Verteidigung

Elke Schmitter, 1961 in Krefeld geboren, studierte Philosophie in München. Von 1992 bis 1994 war Schmitter Chefredakteurin der taz, als Autorin schrieb sie für die Zeit und den Spiegel. Sie veröffentlichte mehrere Romane und ist Gründungsmitglied der taz Panter Stiftung sowie des PEN Berlin

Von dieser Studie habe ich noch nie gehört.

Müller: Sie beschreibt eine Vielzahl kleiner, mutmachender Erfolge, bietet aber insgesamt zu wenige Tropfen auf den heißen Stein. Das wichtigste Ereignis, das dort beschrieben wird, ist kaum bekannt. Eine kleine Stadt von 40.000 Einwohnern in der Nähe von Tschernobyl ist im März von der russischen Armee eingenommen worden; ihr Bürgermeister wurde sofort inhaftiert. Daraufhin gingen die Bürgerinnen und Bürger auf die Straße. Sie haben direkt gegenüber der russischen Armee demonstriert, Lieder gesungen. Die russischen Soldaten haben Schreck-Granaten gezündet, ohne die Ukrainer auseinandertreiben zu können. Wie Ukrainer berichteten, sind die russischen Soldaten schockiert und demoralisiert gewesen, weil ihnen keine Feinde, sondern singende Menschen gegenüberstanden. Es kam zu Verhandlungen mit zwei Ergebnissen. Einerseits wurde der Bürgermeister wieder freigelassen. Andererseits verzichteten die Ukrainer auf militärische Gegenwehr und erlaubten den Russen, ihre Häuser nach Waffen zu durchsuchen. Wenige Tage später ist die russische Armee aus der Stadt abgezogen. Sowas gab es vor vielen Monaten.

Schmitter: Ja, hat es gegeben. Waren Einzelfälle.

Müller: Der Pazifist sagt, wir müssen irgendwann damit anfangen, diese Option des zivilen Widerstandes ernst zu nehmen, zu üben, zu trainieren.

Schmitter: Was bedeutet so ein Satz in so einer Situation? Womit soll bitteschön wer anfangen in der Ukraine? Wer soll das machen: Üben und den Panzern entgegengehen, unbewaffnet und mit einem Lied auf den Lippen? Wie in Prag 1968, wo das auch so gut funktioniert hat?

Müller: Im Moment sorgen wir dafür, dass das nicht passiert.

Schmitter: Wer: wir?

Müller: Wir mit unseren Waffenlieferungen.

Schmitter: Ah okay, wenn wir keine Waffen liefern, lässt sich der nette Russe mit Blumen empfangen, ich bitte Sie. Ihr Neo-Pragmatismus ist einfach ein Ultrarelativismus. Fünf Prozent der Fälle mögen so gewesen sein, 95 nicht.

Ich möchte den Wirklichkeitsbegriff Ergänzen, den Olaf Müller eben eingeführt hat. Was wir wissen, wissen wir über die Medien. Aber liefern die Medien das ganze Bild? Konkret: Sehen wir das Grauen des Kriegs? Mein Eindruck: Wir tun es nicht. Das liegt nicht im Interesse der kriegführenden und assoziierten Mächte.

Müller: Das Grauen auf dem Schlachtfeld bleibt uns weitgehend verborgen. Nur die perversen Raketentreffer in den Städten bekommen wir zu Gesicht.

Frau Schmitter, der Krieg ist schrecklich, wirklich, aber ist er genozidal, wie manche behaupten? Ich glaube das nicht. Die Bombardierung der kritischen Infrastruktur macht mich wütend, aber der Beschuss der Wohnhäuser ist kollateral. Kiew wird nicht eingeäschert.

Schmitter: Ist noch nicht Warschau, ja. Aber da, wo die russische Front war, ist nichts mehr da. Was den Genozid anbelangt: Darüber können sich die Historiker streiten und das tun sie ja auch. Aber empört bin ich nach wie vor: Was soll der Satz bedeuten: „Ja, man könnte ja mal die Waffen schweigen lassen und gucken, was dann passiert?“ Von unserem West-Balkon aus?

Müller: Ich wäre mindestens dafür, die Waffenlieferungen ausdrücklich an die Bedingung der Verhandlungsbereitschaft zu knüpfen. Die Ukrainer haben jetzt so viele Menschen verloren, dass man nachvollziehen kann, wenn sie sagen: „Diese Opfer dürfen nicht vergebens gewesen sein.“ Aber wohin führt das? Nach einem weiteren Jahr Abnutzungskrieg wird diesem Satz noch stärkeres Gewicht zukommen. Und dann?

Schmitter: Man kann sagen, es gibt die Gefahr, dass das außer Kontrolle gerät. Aber dass die Opfer auch eine Motivation bedeuten, gerade bei einem Land, das, als Gesellschaft, erst zur Nation durch diesen Angriff wird, scheint mir ebenfalls klar. Solange wir nur Geld und olles Kriegsgerät liefern, steht uns da kein Rat zu.

Wir liefern Leopard-Panzer. Das ist nicht „olles Gerät“. Wie halten wir es mit den „roten Linien“?

Müller: Wer vor elf Monaten einer Lieferung von Leopard-Panzern das Wort geredet hätte, wäre nicht ernst genommen worden. Haben wir einen Lernprozess hinter uns? Tasten wir uns langsam an die roten Linien heran? Und liegt nicht genau darin ein großes Risiko?

Schmitter: Was ist die Alternative?

António Guterres, der UNO-Generalsekretär, hat neulich noch einmal auf die Gefahr der atomaren Eskalation hingewiesen. Weil wir über unsere missliche Zuschauerrolle in diesem Krieg sprachen: Ich bin im Moment trotzdem ziemlich ruhig. Ich weiß nicht, wieso. Vielleicht, weil es diesen Deal mit den Chinesen gibt, die Druck auf Russland ausüben.

Müller: Innerhalb von zwölf Monaten haben wir uns an das gestiegene Atomkriegsrisiko gewöhnt, die Angst klingt ab. Und genau darin liegt eine riesige Gefahr. In seinem brillanten Buch über die Kubakrise, Nuclear Folly von 2021, analysiert der ukrainische Harvard-Historiker Serhii Plokhy Dutzende schockierender Fehler beider Seiten, die fast in den Atomkrieg geführt hätten. Warum ist es nicht zur Katastrophe gekommen? Laut Plokhy lag es an der im Krisenverlauf steigenden Furcht Chruschtschows und Kennedys vor der Apokalypse. Im gegenwärtigen Krieg sinkt diese Furcht. Die Lektion der Kubakrise gerät in Vergessenheit – eine Lektion, die aus dem damaligen US-Verteidigungsminister und Falken Robert McNamara zuletzt eine Friedenstaube gemacht hat. Auch jetzt ist die Sorge vor dem Atomkrieg keine gegenstandslose Panikattacke.

Was sind denkbare Szenarien?

Müller: Erstens: Sobald die Russen ihre konventionelle Kampfkraft dahinschwinden sehen, könnten sie sich dafür entscheiden, im Gefecht kleinere Nuklearwaffen einzusetzen. Die Wirkung solcher Kernexplosionen wäre zwar begrenzt und müsste nicht zwangsläufig in den atomaren Weltkrieg führen. Aber die Menschheit hätte damit einen fatalen, neuen Schritt vollzogen. Wir hatten nach Hiroshima und Nagasaki ein Tabu gegen kriegerische Einsätze von Atomwaffen. Wenn dieses Tabu auch nur mit einer einzigen Atombombe durchbrochen wird, dann wird das nicht die letzte Atomexplosion gewesen sein. Dazu darf es nicht kommen.

Zweitens?

Müller: Die russische Militärdoktrin ist bekannt. Genau für den Fall, dass die Existenz Russlands gefährdet ist, steht das gesamte atomare Arsenal bereit. Nun diskutieren Teile der russischen Opposition im Exil ganz offen darüber, dass ihr Land in seine Einzelteile zerlegt werden muss. Mit einem riesigen Vielvölkerstaat, der nur durch nackte Gewalt zusammengehalten wird, könne es auf Dauer keinen Frieden geben – so die nicht unplausible Idee. Nur: Wenn daraus eines Tages ein realistisches Szenario wird, dann könnte die Clique um Putin zum Schluss kommen, dass die Existenz Russlands auf dem Spiel stünde und dass dem durch Einsatz des gesamten Atomarsenals entgegenzutreten sei.

Und das dritte?

Müller: Der Atomkrieg könnte aus Versehen losbrechen; die Nerven auf allen Seiten liegen blank.

Frau Schmitter, Sie hatten bezüglich der atomaren Drohungen Putins im ersten Gespräch eine interessante Formulierung von Herfried Münkler aufgegriffen: „mürrische Indifferenz“. Ist das immer noch Ihre Haltung?

Schmitter: Ja, aber ich habe noch eine andere Sache gesagt: Angst kann man nur für sich selber haben. Und ich bin nicht bedroht. Also müssen auch da die entscheiden, die im Risiko sind.

Nach einer Umfrage würden neun von zehn Ukrainern selbst dann weiterkämpfen wollen, wenn eine taktische Atombombe gezündet würde. Mir wird da mulmig. Sie, Frau Schmitter, sagen, das müssen die entscheiden.

Müller: Sorry, die Atomwaffen betreffen die Menschheit in ihrer Gesamtheit. Ich habe lange über die Formulierung von Frau Schmitter aus dem letzten Gespräch nachgedacht, mit dem Ergebnis: Doch, ich kann sehr wohl Sorge um die Menschheit haben.

Schmitter: Sorge ja: Es werden zwar immer wieder rote Linien gerissen. Auch Giftgas ist geächtet. Trotzdem verhält es sich mit Atomwaffen anders.

Jetzt sind wir wieder bei der German Angst. Wird hierzulande hysterisch diskutiert?

Schmitter: Die deutsche Debatte über den Krieg ist doch stark von der historischen Erfahrung geprägt, dass man erst Angreifer, dann Opfer war, wobei das Gedächtnis die zweite Rolle zu privilegieren scheint. Dass man hier also anders über Verteidigung und Wehrhaftigkeit nachdenkt, als, sagen wir, in Großbritannien, finde ich nicht erstaunlich, aber ein bisschen peinlich.

Wehrhaftigkeit, da zucke ich zusammen. Weil da Verhaltensweisen mitschwingen, die ich nicht so sympathisch finde. Fanatisch, opferbereit, aggressiv-männlich. Mir ist der, der davonläuft, eigentlich sympathischer.

Schmitter: Ja, aber wenn er seine Oma zurücklassen muss, läuft er eben nicht mehr davon.

Zeit für ein Fazit. Wie ist so die allgemeine Stimmungslage?

Müller: Elke Schmitters temperamentvoller Sarkasmus in unserem Gespräch hat in mir ein Gefühl von Schuld wachgerufen, das mich regelmäßig anspringt, wenn ich mir klarmache, worauf meine Position auch hinausläuft. Es wirkt fast schon gemein zu empfehlen, die Ukraine im Stich zu lassen. Dass ich damit keine weiße Weste habe, ist mir schmerzlich bewusst. Doch dies ändert wenig an der Gesamtbetrachtung. Man muss Ambivalenzen aushalten, unser moralisches Leben ist nicht so sauber aufgeräumt, wie es die Freunde schneller Antworten gerne hätten.

Bei mir wiederum zerrt die unterkomplexe Berichterstattung der Leitmedien am Nervenkostüm.

Schmitter: Für mich ist es ein großes Privileg, ratlos sein zu dürfen. Das schließt ein: Solidarisch zu handeln in dem Maß, wie es in das eigene Leben passt. Auf Ratschläge für Opfer zu verzichten. Und bei der Wahl zwischen Resignation und Zuversicht das zweite zu trainieren. Weil das erste sinnlos ist.

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Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

Michael Angele

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