Catcalling als Straftat? Bitte nicht

Kolumne Niedersachsens Justizministerin will Catcalling unter Strafe stellen. Tatsächlich wird verbale sexuelle Belästigung nicht genügend verfolgt. Eine Gesetzesänderung wäre trotzdem der falsche Weg, denn Feminismus ist keine Bestrafungsbewegung
Ausgabe 08/2024
Feminismus eine Befreiungs-, keine Bestrafungsbewegung.
Feminismus eine Befreiungs-, keine Bestrafungsbewegung.

Foto: Imago/Christian Mang

Es gibt in jedem Frauenleben diesen einen Sommer, in dem die Blicke der Männer sich verändern. Zuerst verwirrte es mich nur, das plötzliche Interesse kurz vor meinem dreizehnten Geburtstag. Als ich es verstand, war ich geschmeichelt: Ich, ein Objekt des Begehrens? Aufregend! Die Ernüchterung folgte auf den Fuß, bald schon wurde es unangenehm und blieb nicht bei Blicken. Die Sprüche machten klar, dass die neue Aufmerksamkeit mich nicht feierte, sondern erniedrigte.

Praktisch alle Frauen und übrigens auch einige Männer erleben regelmäßig Catcalling. Mitten auf der Straße mit sexualisierten Bemerkungen belästigt zu werden, nervt, beschämt und kann sogar den Alltag einschränken, etwa weil man bestimmte Ecken meidet. Aber sollte es unter Strafe stehen?

Niedersachsens Justizministerin Kathrin Wahlmann (SPD) forderte das vergangene Woche gegenüber der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Sexualstraftaten würden zu geringfügig bestraft. Bei Catcalling gebe es sogar eine Strafbarkeitslücke, die es zu schließen gelte. Da ist tatsächlich was dran. Ich bin trotzdem dagegen.

Das Strafgesetzbuch versteht sexuelle Belästigung als unerwünschte körperliche Berührung. Verbale Belästigung wird höchstens als Beleidigung verfolgt. Dazu gehört aber eine Kundgabe der Missachtung, eine Verletzung der persönlichen Ehre. Höchstrichterliche Rechtsprechung hat die beleidigende Qualität sexueller Sprüche immer wieder abgelehnt, so etwa 2017 im Fall eines 65-Jährigen, der einem elfjährigen Mädchen gesagt hatte, er wolle „an ihre Muschi fassen“. Laut Bundesgerichtshof fehlt es dieser Äußerung an der „herabsetzenden Bewertung“.

Der strafende Feminismus: Tanz mit dem Teufel

Die vermeintliche Strafbarkeitslücke kommt also weniger durch einen Mangel im Strafgesetzbuch zustande als durch eine desaströse Rechtsprechung. Bevor es den Tatbestand der (körperlichen) sexuellen Belästigung gab, hatte man das gleiche Problem beim ungewollten Anfassen. Strafbar allenfalls als tätliche Beleidigung, wurden Grapscher regelmäßig mit der Begründung freigesprochen, dem Übergriff fehle der ehrverletzende Charakter. Wenn diese Lücke durch einen neuen Tatbestand geschlossen wurde, warum nicht das Catcalling-Problem genauso angehen?

Der Ansatz, genderspezifischer Gewalt mit neuen Tatbeständen, härteren Strafen und strengerer Überwachung zu begegnen, wird im englischsprachigen Raum Carceral Feminism genannt. Im Deutschen setzt sich gerade die Bezeichnung punitiver, also strafender Feminismus durch. Ich halte davon nicht viel. Zum einen entlässt es Richterinnen und Richter, die in verbaler sexueller Belästigung ernsthaft keine Missachtung erkennen wollen, aus der Verantwortung. Der Beleidigungstatbestand ist absolut ausreichend, um tatsächlich strafwürdiges, nämlich erniedrigendes Catcalling zu erfassen, man muss nur vernünftig subsumieren.

Zum anderen - diese Kritik ist grundsätzlicher - ist Feminismus eine Befreiungs-, keine Bestrafungsbewegung. Die hawaiianische Rechtsprofessorin Mari Matsuda nennt punitiven Feminismus einen Tanz mit dem Teufel: Die Systeme, von denen man sich mit solchen Forderungen Gerechtigkeit erhofft, sind die gleichen, die andernorts patriarchale (ökonomische, rassistische, queerfeindliche…) Gewalt schützen oder selbst ausüben. Nicht umsonst ist die wohl berühmteste Kritikerin des punitiven Feminismus die US-amerikanische Marxistin Angela Davis. Stimmen, die harte Strafen im Namen der Frauenrechte fordern, ertönen eher aus der liberalen bis sozialdemokratischen Ecke. Ich möchte damit nichts zu tun haben. Mein dreizehnjähriges Ich wird es mir verzeihen.

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Geschrieben von

Özge İnan

Redakteurin, Social Media

Özge İnan hat in Berlin Jura studiert. Währenddessen begann sie, eine Kolumne für die Seenotrettungsorganisation Mission Lifeline zu schreiben. Nach ihrem ersten juristischen Staatsexamen folgten Stationen beim ZDF Magazin Royale und im Investigativressort der Süddeutschen Zeitung. Ihre Themenschwerpunkte sind Rechtspolitik, Verteilungsfragen, Geschlechtergerechtigkeit und die Türkei.

Foto: Léonardo Kahn

Özge İnan

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