Kunst über rassistisches Attentat: „Hanau aus dem Kopf schreiben“

Gedenken Vor vier Jahren tötete ein Rechtsterrorist in Hanau neun Menschen. Seitdem haben viele Künstler den Anschlag in ihren Werken verarbeitet, darunter Rapper Apsilon, Autorin Mithu Sanyal und Dichter Ozan Zakariya Keskinkılıç. Was vereint sie?
Unzählige schwarz-weiße Schilder mit den Namen und Gesichtern der Opfer: Gedenkdemonstrationen in Hanau gegen den rechten Terror
Unzählige schwarz-weiße Schilder mit den Namen und Gesichtern der Opfer: Gedenkdemonstrationen in Hanau gegen den rechten Terror

Foto: Patrick Scheiber/Imago Images

Wenn an einem sonst unauffälligen Ort etwas Schreckliches passiert, wird der Ortsname zum Synonym für den Schrecken. Hanau ist keine Ausnahme. Hier in der Stadt des Anschlags vom 19. Februar 2020 wehrt man sich dagegen nicht, im Gegenteil. Schon der Weg vom Bahnhof zum Auftaktort der Gedenkdemonstration, dem Kurt-Schumacher-Platz, wo der Täter vor vier Jahren in den Mercedes des 22-jährigen Vili-Viorel Păun schoss, ist voller kleiner Zeichen, Erinnerungen an die neun Opfer des Anschlags.

Es ist einer der ersten warmen Samstage in diesem Jahr, ein richtiger Frühlingstag. Auf einem Balkon steht ein schwarzhaariger Mann und hängt ein professionell gefertigtes Banner über das Geländer, es zeigt die Gesichter aller neun Opfer. An einem Stromkasten klebt ein Sticker mit dem berühmten Zitat des getöteten 23-jährigen Ferhat Unvar, „Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst“. Der Sticker muss seit Jahren hier kleben, so ausgeblichen ist er. Die Hanauer scheinen entschlossen, es zu verhindern, das Vergessen. Der Demonstrationszug aus über fünftausend Menschen kommt an unzähligen Bannern vorbei, die gezeichnet sind von Wind und Wetter der vergangenen vier Jahre. An einer Kirche, einem Kindergarten, an den Toren von Schloss Philippsruhe, selbst in der verglasten Infotafel des städtischen Friedhofs hängen die Losungen, die an den Anschlag erinnern, Demokratie und Vielfalt, Zusammenhalt und Toleranz verkünden. Die meisten sind bunt gestaltet.

Auf der Demonstration selbst überwiegen die schwarz-weißen Schilder mit Namen und Gesichtern der Opfer, aber auch hier findet sich Kunst: Eine junge Frau hat aus gelber Pappe einen Mittelfinger ausgeschnitten, FCK NZS steht darauf. Jemand hat aus einer Wärmedecke eine gigantische, silber-gold glänzende Fahne gebastelt. Mit den Rufen „Hanau, das war Mord, Widerstand an jedem Ort“ vermischen sich Deutschrap-Klänge. Es ist der Hanauer Rapper Aksu, der später live auftreten wird. In der Nacht des Anschlags verlor er zwei Freunde. „Wo waren die Scheißbullen, als der Täter kam?“, fragt er in „Wo wart ihr“. „Sie ließen sie verbluten durch Schüsse voll Hass“.

„Das musste raus, die Angst, der Schmerz“

Kunst über Hanau, das bedeutet Kunst über Terror und Rassismus, Kunst über den Tod junger Menschen. Gedichte und Lieder, Malwettbewerbe und Theaterstücke wurden dem Anschlag schon gewidmet. Fünf Berliner Tattookünstlerinnen haben am vergangenen Sonntag eine limitierte Fundraising-Aktion gestartet, deren Erlöse an die Gedenkinitiative in Hanau gehen. Auf der diesjährigen Berlinale trug die Schauspielerin Luisa-Céline Gaffron auf dem roten Teppich die Namen der Getöteten auf ihren Handflächen. Was bedeutet es Künstlerinnen und Künstlern, sich mit dem Anschlag auseinanderzusetzen?

Am ersten Jahrestag der Tat erschien ein dunkelblaues Büchlein mit dem Titel „Texte nach Hanau“. Der Verlag Stolze Augen hat als Logo das Nazar-Auge, ein Symbol für Schutz vor bösen Mächten. In der Anthologie, der ersten Veröffentlichung des Verlags, sind 63 Beiträge gesammelt, darunter das Gedicht „Wie Bettlaken über den Augen“ von Ozan Zakariya Keskinkılıç. Der 33-Jährige ist Politikwissenschaftler und arbeitet zugleich als Lyriker. „die nacht hat den mond verabschiedet. greifst nach der welt und scrollst. terror in hanau. tote. und kein wort, das genügt“, heißt es in dem Text. „seit stunden ansetzen, hanau aus dem kopf schreiben. weinen.“

Keskinkılıç wurde selbst in Hessen geboren und lebt in Berlin, wo er zu Rassismus und Antisemitismus forscht. In diesem ersten Gedicht, sagt er dem Freitag, ging es darum, „etwas aus dem Körper heraus zu schreiben, das von innen gegen Knochen, Fleisch und Haut geschlagen hat“. Über Hanau zu schreiben, bedeute, „mit der Sprache zu kämpfen“, Worte zu suchen, wo es keine gibt. „Das musste raus, die Angst, der Schmerz, ich wollte Verletzlichkeit zulassen und dieses Gefühl teilen, nicht weiter zu wissen und an nichts anderes denken zu können.“ Er hat noch ein zweites Gedicht geschrieben, „Februarsturm“, da lag Hanau schon drei Jahre zurück. „den februarsturm an hundekrawatten binden/ an lieblingsbäckerei, karnevalsumzug, an oktoberfest/ einwerfen in briefkästen/ keine werbung, sondern anzeige“ heißt es in dem Gedicht, das im vergangenen Jahr in der Frankfurter Rundschau erschien. „ich ziehe am schlauch, ich ziehe/ im westen, ich ziehe im osten, ich ziehe/ und ziehe den vorhang zur seite/ fäuste/ im himmel, megaphone, schilder/ say their names“. Es ist deutlich wütender, dieses Gedicht, vielleicht auch der Zeit geschuldet, der Überwindung des ersten Schocks. Beide Gedichte, sagt Keskinkılıç, „bemühen Emotionen, die uns im Umgang mit Rassismus und rechtem Terror begleiten: die Angst, bedroht zu sein. Der Schmerz, keine Anerkennung dafür zu finden. Und die daraus resultierende Wut, aus der eine kreative Kraft entstehen kann, um etwas zum Guten zu verändern.“

Großeltern, Eltern, Kinder: Der rechte Terror war immer da

Wut. Der Begriff fällt auch im Gespräch mit Apsilon oft. Arda, wie der Berliner Rapper bürgerlich heißt, ist so erfolgreich mit seiner Musik, dass er jüngst einen Plattenvertrag bei Sony unterzeichnete. Auch er hat zwei Mal über Hanau geschrieben. „Acker' hier dreißig Jahre für einen Mercedes/ Um zu sehen, wie sie deinen Sohn in einen Leichenwagen heben/ Obduzieren, Körper auseinandernehmen/ Doch was uns killt, kannst du nicht in Eingeweiden sehen“, rappt er in „Ich leb“. „Ich sag' euch was das war, das war die Heimat, die ihr predigt/ Falsche Gene, falsche Zeit im Café/ Sie sehen nur ein paar schwarze Schafe bei den Cops/ Ich seh' einen großen Wolf und er macht seinen Job“.

Das Direkte, sagt er im Gespräch mit dem Freitag, das Ungefilterte, das dem Hip-Hop innewohne, mache es besonders geeignet, um Wut zu transportieren. „Wut auf den Täter, natürlich, Wut darauf, dass es passiert ist. Aber auch darauf, wie damit umgegangen wurde, Wut auf den Staat und politische Akteure. Unsere Großeltern, unsere Eltern und jetzt wir – jede Generation ist mit rechtem Terror aufgewachsen und mit dem Staatsversagen, das ihn ermöglicht.“ Er schreibt darüber, denn „solange das eine gesellschaftliche Realität ist, wird es eine musikalische Realität sein.“ In Hanau trat er dieses Jahr nicht auf, auch wenn er immer wieder Konzerte auf Gedenkveranstaltungen spielt. Dieses Mal lief er in seiner Heimat Berlin mit, „ohne im Mittelpunkt zu stehen, sondern als ganz normaler Demoteilnehmer.“ Das Auftreten, die Performance entfremde immer ein wenig von dem, „worum es eigentlich gehen soll“.

Mit dem Transformationsprozess, ohne den es keine Kunst gibt, hatte auch die Schriftstellerin Mithu Sanyal zu kämpfen. Sie schrieb gerade ihren Bestseller „Identitti“, als der Anschlag passierte – und beschloss, ihn in die Geschichte einzubeziehen. „Mir war immer klar, dass mein Roman Identitti mit einem rechtsextremen Terroranschlag enden würde“, erinnert sie sich. „Dann kam der 19. Februar 2020 und Hanau und plötzlich teilte sich meine Welt.“ Wenige Tage danach habe eine ihrer besten Freundinnen sie gefragt, wie es ihr gehe, sie habe geantwortet: Scheiße natürlich. „Und sie erschrak sich total und erkundigte sich, was passiert sei. Das lag nicht daran, dass sie nicht mitbekommen hatte, was in Hanau passiert war. Es war nicht persönlich für sie. Und plötzlich war mir klar, dass mein Roman nicht mit irgendeinem rassistischen Terroranschlag enden würde, sondern mit dem rassistischen Anschlag in Hanau.“ Mit den echten Orten, den echten Namen. Sofort danach plagten sie „wahnsinnige Gewissensbisse“, sie trieb die Frage um, ob sie das überhaupt darf, ob das nicht eine Vereinnahmung ist. „Ich habe bis heute keine Antwort darauf“, sagt sie, „ich wusste nur, ich musste es machen.“ Zeitgleich mit ihrem Buch erschienen Romane von Kolleginnen, in denen der Anschlag ebenfalls eine Rolle spielt, auch wenn sie dort nicht klar benannt sind. „Wir wollten dieser Erschütterung in der Literatur einen Widerhall geben, weil das unsere Geschichten sind, und damit meine ich deutsche Geschichten“, erklärt sie. Rechter Terror und seine Folgen „müssen Teil im Chor der deutschen Literatur sein, wenn sie eine deutsche Literatur sein soll, die diesen Namen verdient und nicht nur eine Literatur für bestimmte deutsche Erfahrungen.“

„Hanau, das sind wir“

Was die drei eint, ist das Gefühl, vom Anschlag in Hanau mitbetroffen, von den Schüssen mitgemeint zu sein. In dem Bekennerschreiben des Täters heißt es, „bestimmte Völker“ müssten „vernichtet“ werden. Keskinkılıç zitiert den Satz in seinem Gedicht und schreibt: „du bist bestimmte völker. und fragst dich: was jetzt?“ Rapper Apsilon sagt, man habe rechten Terror schon vorher gekannt, aber Hanau, „die sind so alt wie wir, die chillen an den gleichen Orten wie wir, das sind wir“. Mithu Sanyal, Jahrgang 1971, hörte in den Interviews mit überlebenden jungen Männern die Stimme ihres Sohnes.

Die, deren Angehörige es wirklich waren, spielen an diesem Frühlingstag in Hanau die Hauptrolle. Emiş Gürbüz, die berichtet, der Friedhof sei ihr Wohnzimmer geworden. Filip Goman, dessen Großvater im KZ vergast worden sei und seine Tochter in Hanau erschossen. Vaska Zlateva, die die anwesende Polizei fragt, wo sie waren, als ihr Cousin eine halbe Stunde lang tot am Boden lag. Die Tochter eines Verletzten, deren Vater nun ein schwerer Pflegefall sei, die sagt, der Täter habe ihrer Familie das Licht weggenommen. Und Serpil Temiz Unvar, am Rand der Bühne immer umgeben von den Jugendlichen ihrer Bildungsinitiative, von denen viele sie Serpil Anne nennen, Mutter Serpil. Der Kampf sei nicht für sie selbst, sagt sie, ihr Sohn komme nicht mehr zurück. Der Kampf sei für alle Kinder und Jugendlichen. Nach ihrem Sohn Ferhat Unvar hat sie ihre Initiative benannt, die antirassistische Bildungsarbeit von und für Jugendliche anbietet. Ferhat war es, der den Satz „Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst“ schrieb, drei Jahre, bevor er erschossen, aber nicht vergessen wurde.

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Geschrieben von

Özge İnan

Redakteurin, Social Media

Özge İnan hat in Berlin Jura studiert. Währenddessen begann sie, eine Kolumne für die Seenotrettungsorganisation Mission Lifeline zu schreiben. Nach ihrem ersten juristischen Staatsexamen folgten Stationen beim ZDF Magazin Royale und im Investigativressort der Süddeutschen Zeitung. Ihre Themenschwerpunkte sind Rechtspolitik, Verteilungsfragen, Geschlechtergerechtigkeit und die Türkei.

Foto: Léonardo Kahn

Özge İnan

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