Nahostkonflikt: Die Sprache der Soldaten

Kolumne Was, wenn wir nur einen Moment innehalten könnten, angesichts des Grauens in Gaza und in Anbetracht von Leid, Schmerz und Trauer auf beiden Seiten des Konfliktes, fragt sich unsere Autorin
Ausgabe 47/2023
Solche Bilder gehören mittlerweile zum Alltag, doch wir dürfen uns durch sie nicht abstumpfen lassen
Solche Bilder gehören mittlerweile zum Alltag, doch wir dürfen uns durch sie nicht abstumpfen lassen

Foto: Mahmud Hams/AFP via Getty Images

Sollte Ihnen die Welt gerade vorkommen wie eine einzige klaffende Wunde, sind Sie nicht allein. Nach Angaben der Hilfsorganisation Save the Children stirbt in Gaza alle zehn Minuten ein Kind. In der Zeit, in der Sie diese Zeitung lesen, könnte etwa eine halbe Schulklasse durch israelisches Bombardement getötet worden sein.

Verzweiflung, Mitgefühl, überhaupt Gefühl, das alles sind Merkmale eines schlagenden Herzens. Aus Gefühlen werden bekanntermaßen Taten, irgendwo in der Mitte dieses Prozesses findet das Denken statt. Um Schmerz in Vergeltungsschläge, Trauer in Bomben zu verwandeln, um das vor sich und der Welt zu rechtfertigen, muss dieses Denken eine ganz bestimmte Qualität haben: Es muss soldatisches Denken sein.

„Unser Fokus liegt auf Zerstörung, nicht auf Präzision“, sagte der israelische Admiral Daniel Hagari drei Tage nach dem Terrorangriff der Hamas in einer Erklärung zur Gegenoperation. Wir sehen jetzt, wie wörtlich er das meinte. Andere Reaktionen auf die schreckliche Gewalt der Hamas als Zerstörung kennt soldatisches Denken nicht, lässt ihren Vorschlag nicht einmal zu. Es kennt nichts Ziviles, es kennt Seiten, kennt Helden und Feinde. Es bittet nicht um Hilfe, weint nicht, schwächelt nicht, es verlangt Wehrkraft. Es wertet jeden Mangel davon als Verrat. Es kennt kein Gemeinsames, es kennt hier zu Schützendes und dort zu Zerstörendes. Es ist Männlichkeit in ihrer archaischen Form.

Aus dem Mund eines hochrangigen Soldaten verwundert das nicht. Aber was, wenn Menschen im eigenen Umfeld plötzlich sprechen wie Soldaten? „Was sollen sie sonst machen?“, fragte mich jemand, den ich sehr schätze, und meinte die Verteidigung Israels. Ihm war alles bekannt: die ausgebombten Wohnviertel, die Strom- und Wasserblockaden, die toten Kinder. Etwas anderes als das konnte er sich schlicht und ergreifend nicht vorstellen. Ein Streben nach Sicherheit für jüdisches Leben, das nicht über palästinensische Leichen gehen muss, überstieg sein gesamtes schöpferisches Denkvermögen.

Die sogenannte andere Seite ist von den gleichen kognitiven Schranken begrenzt. Hier gibt es auf die 1.200 Opfer der Hamas-Angriffe nur eine Antwort: 75 Jahre. So lange sind die Palästinenser unterdrückt. Vor allem in den ersten Tagen nach dem Anschlag wurde unzählige Male die berühmte Grafik geteilt, „The Human Cost of the Israeli-Palestinian Conflict“. Ein Diagramm, links die Balken für Palästinenser, rechts die Israelis. Die palästinensischen Balken ragen wie Speere in die Bildfläche, die israelischen dagegen eher wie kurze Baumstümpfe. Und dann muss sich die Betrachterin den siebten Oktober dazudenken und die Zahl 1.200. Und dann – ja, was eigentlich?

Das sagen sie nicht so laut, die die Grafik teilen. Man muss denken wie ein Soldat, um zu verstehen. Wer mehr stirbt, hat recht. Der Verlust eines Menschenlebens ist dieser Logik nach erst in zweiter Linie eine Tragödie, ein Schmerz, ein Trauma. Vor allem ist er ein Vollstreckungstitel. Er verleiht das Recht, zu töten. Im soldatischen Denken gibt es keine Unsicherheiten. Wer auf die Frage, wie die einen der Gewalt der anderen entkommen sollen, ohne neue Gewalt in die Welt zu setzen, keine Antwort hat, bekommt kein Gehör. „Ich weiß es nicht“ ist keine gültige Antwort in Kriegszeiten. Aber politische Schaffenskraft setzt die Erkenntnis voraus, dass eine Lücke besteht. Wer diese Erkenntnis nicht erträgt, hat keine Wahl, als sich dem Gemetzel hinzugeben.

Super Safe Space

Özge İnan ist Redakteurin des Freitag. Sie schreibt sie abwechselnd mit Dorian Baganz, Elsa Koester, Tadzio Müller und Alina Saha die Kolumne „Super Safe Space“.

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Geschrieben von

Özge İnan

Redakteurin, Social Media

Özge İnan hat in Berlin Jura studiert. Währenddessen begann sie, eine Kolumne für die Seenotrettungsorganisation Mission Lifeline zu schreiben. Nach ihrem ersten juristischen Staatsexamen folgten Stationen beim ZDF Magazin Royale und im Investigativressort der Süddeutschen Zeitung. Ihre Themenschwerpunkte sind Rechtspolitik, Verteilungsfragen, Geschlechtergerechtigkeit und die Türkei.

Foto: Léonardo Kahn

Özge İnan

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