G 20-Treffen: Ein Teil Delhis wird hinter einem Vorhang der Scham verborgen

Indien Während den Delegationen überall der rote Teppich ausgerollt wird, verschwinden ganze Viertel hinter Barrieren, Mauern und Leinwänden, damit der Anblick von Not und Elend das Prestigeunternehmen G 20-Gipfel nicht stört
Premierminister Narendra Modis Antlitz soll die Armut Delhis verschleiern
Premierminister Narendra Modis Antlitz soll die Armut Delhis verschleiern

Foto: Elke Scholiers/Getty Images

Das erste Mal hörte Saroaj Devi vom G20-Gipfel, als rund um den Slum in Delhi, in dem sie lebt, hohe grüne Mauern errichtet wurden. Bald wurde ihr klar, dass die dazu dienen sollten, ihre verarmten Häuser vor den ausländischen Staats- und Regierungschefs zu verbergen, die an diesem Wochenende Indiens Hauptstadt zum G20-Gipfel bevölkern. Die Verhüllung ist Teil eines umgerechnet 115 Millionen Euro teuren Facelifts, bei dem sich Delhi in einer glänzenden Verfassung präsentieren und aufwerten will, während seine armen Viertel außer Sichtweite bleiben oder sogar Slums dem Erdboden gleichgemacht wurden.

„Sie haben unser Gebiet mit großen Leinwänden abgedeckt, damit arme Menschen wie wir und das Elend in unserer Gesellschaft dem Ausland verborgen bleiben“, sagt die 50-jährige Devi. „Wenn Wahlen sind, kommt jeder Politiker zu uns. Sie essen mit uns und machen Versprechen. Aber heute schämen sie sich der Zustände, die bei uns herrschen.“

An der Außenseite der großen Werbetafeln, die jetzt viele von Delhis Slums umgeben, sind Plakate mit dem Antlitz des Gastgebers, Premierminister Narendra Modi, angebracht, der nun statt des Anblicks bedrückender Verhältnisse die vorbeikommenden G20-Gipfeldelegierten begrüßt. Devi und andere Bewohner des Coolie-Slums im Süden Delhis fühlen sich während dieses Gipfels nicht nur entwürdigt, sondern auch ihrer Lebensgrundlage beraubt.

Drei Tage Ausgangssperre für die Bewohner Delhis

Um die Sicherheit zu gewährleisten und die Straßen freizuhalten, während die Limousinen von Joe Biden, Rishi Sunak und Olaf Scholz unterwegs sind, wurde den 32 Millionen Menschen, die in Delhi leben, eine umfassende Ausgangssperre auferlegt. Schulen, Büros, Märkte, Restaurants und Non-Food-Läden müssen für drei Tage geschlossen bleiben. Der Verkehr auf den Straßen wird akut eingeschränkt und den Menschen empfohlen, sie sollten zu Hause zu bleiben.

Während die Polizei in ihren Erklärungen ständig versichert, dass es sich hierbei um „keinen Lockdown“ handelt, trifft dies auf die ärmeren Einwohner und Tagelöhner der Stadt sehr wohl zu, von denen viele von der Hand in den Mund leben und es sich nicht leisten können, auch nur einen einzigen Arbeitstag zu verlieren. Die Auswirkungen dieser Suspendierung werden verheerend sein.

„Müssen wir nicht zur Arbeit gehen und essen? Sollen wir sterben, weil wir arm sind?“ fragt Devi, die als Reinigungskraft rund 3.000 Rupien (24 Euro) im Monat verdient, jetzt aber Gehalt verliert, was sie sich absolut nicht leisten kann. „Ich versäume sonst keinen Arbeitstag, auch wenn ich krank bin, weil ich es mir einfach nicht erlauben kann, Geld zu verlieren. Arme Menschen wie ich können dieses Ereignis nur verfluchen, weil wir leiden und unsere Bäuche leer sein werden.“

Vineet Singh (35), der in einem Slum einen kleinen Lebensmittelladen betreibt, meint, die großen Vorhänge hätten sein Geschäft vor den Blicken der Kunden verborgen, er habe ein Loch hineinschneiden müssen, damit er noch gesehen werde. Sein Verdienst sei bereits von 1.000 Rupien (8,50 Euro) pro Tag auf nur noch wenige hundert Rupien gesunken. „Ich muss eine Familie ernähren“, sagt er. „Wer soll das für mich tun?“

Aus der Öffentlichkeit getilgt

In Hafiz Nagar, einem Elendsquartier fast gegenüber dem prunkvollen neuen Konferenzzentrum, in dem der Gipfel stattfindet, werden die Bewohner nach eigenen Angaben seit Tagen von der Polizei daran gehindert, ihre Behausungen zu verlassen. Mohammad Imran (45) empört sich: „Wir werden wie Insekten behandelt, nicht wie Menschen.“

In den vergangenen Tagen wurden mehr als 4.000 Obdachlose, die unter Überführungen und auf Straßen lebten, in Notunterkünfte am Stadtrand von Delhi gebracht. Harsh Mander, ein Aktivist der Zivilgesellschaft, erkennt darin „eine Art fieberhaften Versuch, die Armen entweder aus der Stadt zu vertreiben oder regelrecht aus der Öffentlichkeit zu tilgen. Wir sind die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt, aber die Realität ist, dass wir auch die weltweit größte Bevölkerungsgruppe an Menschen haben, die in Armut leben. Das alles ist ein Versuch, die Kehrseite des wirtschaftlichen Wohlstands, nämlich die extreme Ungleichheit, zu verschleiern“.

Auch für die Straßenhändler, die Tage lang Verluste hinnehmen müssen, ist das faktisch verhängte Geschäftsverbot besonders ärgerlich. Zuvor waren sie von der Regierung angewiesen worden, ihre Stände für den Gipfel auf eigene Kosten zu renovieren und zu modernisieren. Jetzt droht ihnen der Bankrott.

Hannah Ellis-Petersen, Askash Hassan sind Südasien-Korrespondenten des „Guardian“

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Hannah Ellis-Petersen, Askash Hassan | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

The Guardian

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden