Neue Studie: Atlantische Umwälzzirkulation steht kurz vor einem „verheerenden“ Kipppunkt

Erwärmung der Meere Utrechter Forschern warnen: Ein Zusammenbruch des Atlantischen Meeres-Strömungssystems, das zur Regulierung des globalen Klimas beiträgt, könnte so schnell erfolgen, dass eine Anpassung unmöglich wäre. Mit weitreichenden Folgen
Wenn die Atlantikzirkulation kollabiert, würde sich Europa dramatisch abkühlen
Wenn die Atlantikzirkulation kollabiert, würde sich Europa dramatisch abkühlen

Foto: Imago/Westend61

Die Zirkulation des Atlantischen Ozeans, auch als Golfstrom-System bekannt, steuert auf einen Kipppunkt zu. Eine neue Studie warnt davor, dass daraus „schlechte Nachrichten für das Klimasystem und die Menschheit“ folgen.

Die Studien-Autoren schreiben, sie seien selbst überrascht gewesen von der prognostizierten Geschwindigkeit des Zusammenbruchs der sogenannten Atlantischen Meridionalen Umwälzzirkulation (Atlantic meridional overturning circulation, oder Amoc), also dem komplexen und riesigen Strömungssystem im Atlantischen Ozean, das für das Erdklima eine zentrale Rolle spielt. Das heißt: Von der Geschwindigkeit des Zusammenbruchs der Umwälzzirkulation, sobald der Kipppunkt erreicht sei, obwohl sie selber sagten, dass es noch nicht möglich sei, vorherzusagen, wie schnell dies geschehen würde.

Anhand von Computermodellen und Daten aus der Vergangenheit entwickelten die Forscher der Universität Utrecht einen Frühwarnindikator für den Zusammenbruch der Atlantischen Umwälzzirkulation; und sie fanden heraus, dass diese bereits auf dem Weg zu einer abrupten Verschiebung ist, die seit mehr als 10.000 Jahren nicht mehr stattgefunden hat und katastrophale Auswirkungen auf weite Teile der Welt haben würde.

Was, wenn das gigantische Meeres-Förderband abbricht?

Das Strömungssystem der Amoc, zu dem ein Teil des Golfstroms und andere starke Meeresströmungen gehören, ist ein gigantisches Meeres-Förderband, das wärmeres Wasser, Kohlenstoff und Nährstoffe aus den Tropen in Richtung Polarkreis transportiert, wo sie abkühlen und in die Tiefsee sinken. Diese Umwälzungen tragen dazu bei, die Energie auf der Erde zu verteilen und die Auswirkungen der vom Menschen verursachten Erderwärmung zu mildern.

Das System wird jedoch durch das schneller als erwartete Abschmelzen der grönländischen Gletscher und der arktischen Eisschilde ausgehöhlt, wodurch Süßwasser ins Meer fließt, was das Absinken des salzigeren, wärmeren Wassers aus dem Süden behindert.

Die Atlantische Umwälzzirkulation ist seit dem Jahr 1950 um 15 Prozent zurückgegangen und befindet sich in ihrem schwächsten Zustand seit mehr als einem Jahrtausend, wie eine vor drei Jahren veröffentlichte Studie des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung belegte, die zu Spekulationen über einen bevorstehenden Zusammenbruch führten.

Bislang gab es keinen Konsens darüber, wie schwerwiegend dieser sein könnte. Eine Studie aus dem vergangenen Jahr, die sich auf Veränderungen der Meeresoberflächentemperaturen stützte, deutete darauf hin, dass der Kipppunkt zwischen 2025 und 2095 erreicht werden könnte. Das britische Meteorologische Institut Met Office erklärte jedoch, dass große, schnelle Veränderungen in der Atlantischen Umwälzzirkulation vor dem Jahr 2100 „sehr unwahrscheinlich“ seien.

„Schlechte Nachrichten für das Klimasystem und die Menschheit“

Die neue Studie der Utrechter Forscher, die in der Zeitschrift Science Advances veröffentlicht wurde, betritt insofern Neuland, als sie nach Warnzeichen im Salzgehalt im südlichen Teil des Atlantiks zwischen Kapstadt und Buenos Aires suchte. Durch eine Simulation von Veränderungen über einen Zeitraum von 2.000 Jahren in Computermodellen des globalen Klimas kamen die Autoren zu dem Schluss, dass ein langsamer Rückgang zu einem plötzlichen Zusammenbruch in weniger als 100 Jahren führen kann, was katastrophale Folgen haben kann.

In der Studie heißt es, die Ergebnisse lieferten eine „klare Antwort“ auf die Frage, ob eine solche abrupte Veränderung möglich sei: „Das ist eine schlechte Nachricht für das Klimasystem und die Menschheit, denn bisher konnte man davon ausgehen, dass das Kippen des Amoc-Systems nur ein theoretisches Konzept sei und dass von einem Kipppunkt keine Rede mehr sein würde, sobald das gesamte Klimasystem mit all seinen zusätzlichen Rückkopplungen berücksichtigt wird.“

In der Studie werden auch einige der Folgen eines Amoc-Kollapses untersucht. Der Meeresspiegel im Atlantik würde in einigen Regionen um einen Meter ansteigen und viele Küstenstädte überschwemmen. Die Regen- und Trockenzeiten im Amazonasgebiet würden sich umkehren, wodurch der bereits geschwächte Regenwald seinen eigenen Kipppunkt überschreiten könnte. Die Temperaturen auf der ganzen Welt würden viel stärker und unberechenbarer schwanken. Die südliche Hemisphäre würde sich erwärmen. Europa würde sich dramatisch abkühlen, Niederschläge würden hier abnehmen. Auch wenn dies im Vergleich zum derzeitigen Erwärmungstrend verlockend klingt, würden die Veränderungen zehnmal schneller eintreten als heute, was eine Anpassung fast unmöglich macht.

„Was uns überrascht hat, war die Geschwindigkeit des Kippens selber“, sagt der Hauptautor der Studie, René van Westen von der Universität Utrecht. „Die hätte verheerende Folgen.“

Van Westen gibt zu bedenken, dass es noch nicht genügend Daten gebe, um zu sagen, ob der Kipppunkt im nächsten Jahr oder im kommenden Jahrhundert überschritten werden könnte. Aber wenn es geschieht, wären die Veränderungen unumkehrbar. Schon in der Zwischenzeit geht die Entwicklung in eine bedenkliche Richtung.

„Wir bewegen uns darauf zu. Das ist beängstigend“, sagt van Westen. „Wir sollten den Klimawandel viel ernster als bisher nehmen.“

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Geschrieben von

Jonathan Watts | The Guardian

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