Schweden: Kinder werden für einen bewaffneten Drogenkrieg rekrutiert

Jugendkriminalität Schwedens Regierung versucht, eine ausufernde Rivalität zwischen Drogengangs einzudämmen, die zu immer mehr toten Minderjährigen führt, und setzt nun sogar die Armee ein. Die soll auch den Transfer illegaler Waffen eindämmen
Polizeiermittlungen im Zentrum Görteburgs, nach einem Messerangriff auf ein zehnjähriges Mädchen im März
Polizeiermittlungen im Zentrum Görteburgs, nach einem Messerangriff auf ein zehnjähriges Mädchen im März

Foto: Bjorn Larsson Rosvall/AFP/Getty Images

In der kleinen Stadt Örebro sind Waffen leicht zu bekommen. Die Sozialdienste sagen, dass die meisten durch Jugendkriminalität gefährdeten Minderjährigen, mit denen sie arbeiten, jeden Tag solche ergattern können. Die Kontakte sind da, wenn man sie möchte. Drogen lassen sich freilich noch schneller beschaffen“, sagte Sabrina Farlblad vom Sozialamt der Stadt. Ihr Team hat vor zwei Jahren Selbsthilfegruppen für junge Menschen gegründet, bei denen das Risiko besteht, in Gewalt verwickelt zu werden. Bisher scheint der präventive Ansatz zu funktionieren.

Soweit das die Sozialdienste übersehen können, war keiner der Jugendlichen, die Selbsthilfegruppen beigetreten sind, an Schießereien beteiligt. Illegale Waffen – laut Polizei größtenteils vom Balkan – sind in Schweden relativ leicht zugänglich. Da immer jüngere Kinder – manche sind erst zehn Jahre alt – für den Drogenhandel rekrutiert werden, steigt die Zahl derer, die in entstehenden Konflikten Waffen mit tödlichen Folgen einsetzen. Die Polizei befürchtet, dass es nur eine Frage der Zeit sein wird, bis Waffen aus der Ukraine ihren Weg nach Schweden finden.

Mord als exemplarische Bestrafung

Aktuelle Zahlen zeigen, dass die Zahl der 15- bis 17-Jährigen, die wegen schwerer Straftaten wie Mord und Mordversuch strafrechtlich verfolgt werden, auf den höchsten Stand seit 2019 gestiegen ist. In diesem Jahr gab es während der ersten sechs Monate in dieser Altersgruppe 42 Tatverdächtige, denen versuchter Mord zur Last gelegt wird – 2022 waren es insgesamt 38.

Zuletzt haben sich Vorfälle mit tödlichem Ausgang gehäuft, an denen Teenager beteiligt sind, darunter ein Junge, der festgenommen wurde, nachdem ein Mann bei einer Schießerei in der Stadt Helsingborg ums Leben gekommen war. In einem anderen Fall wurden zwei 14-Jährige tot in einem Waldgebiet gefunden. Berichten zufolge wurden sie ermordet, weil sie keine Aufgaben im Auftrag eines kriminellen Netzwerks erledigen wollten.

Das Ausmaß des Problems hat die Regierung kürzlich dazu veranlasst, die Armee einzusetzen und Pläne anzukündigen, die den Informationsaustausch zwischen Schulen, Sozialdiensten und Polizei erleichtern sollen, um gefährdete Kinder frühzeitig zu erkennen. Dadurch soll verhindert werden, dass junge Menschen in die Kriminalität abdriften. Im ganzen Land werden bereits verschiedene Techniken erprobt, um die Gewalt einzudämmen, wie zum Beispiel das Projekt in Örebro, das zwischen Stockholm und Göteborg liegt. Neben den Selbsthilfegruppen setzt Örebro auch auf eine Gruppengewaltintervention (GVI), bei der eine polizeiliche Aufklärungskarte kontinuierlich aktualisiert wird. Darauf sind Personen vermerkt, die an Gewaltverbrechen beteiligt sind oder gesellschaftlich mit Gewaltverbrechen in Verbindung stehen.

Schießereien auf Spielplätzen

Bei den Unterstützungstreffen lautete die von der Kriminalpräventionsstrategin Johanna Sollerman vertretene Hauptbotschaft: „Wir wollen nicht, dass Kinder getötet werden.“

Den jungen Menschen wird gesagt, wie sie sich schützen können und dass sie damit rechnen müssen, Gewalttäter von allen Seiten reglementiert sein werden, vom Sozialamt bis zum Finanzamt. Bisher kam es 2023 erst zu einer tödlichen Schießerei in Örebro, verglichen mit vier im Jahr 2021, als es Schießereien auf Spielplätzen und vor einem Kindergarten gab.

Evin Cetin, Anwalt und Experte für Jugendkriminalität, sagt, die Konflikte drehten sich größtenteils um Drogen und darum, wer die Macht über bestimmte Pfründe habe. Die Regierung muss sich die Frage stellen: Können wir die Bandenkriminalität, die Kindersoldaten rekrutiert, knacken, ohne das milliardenschwere Drogengeschäft zu knacken? Anstatt sich darauf zu konzentrieren, die Kinder zu bestrafen, die Drogen verkaufen, sollte mehr Gewicht auf diejenigen gelegt werden, die Drogen von jungen Leuten kaufen.“

Was Ministerpräsidentin Magdalena Andersson will

Diese Meinung wird auch von der ehemaligen schwedischen Ministerpräsidentin Magdalena Andersson bestätigt, die auch eine Festnahme derjenigen fordert, die Drogen von Kindern kaufen. „Es geht darum, unsere Jugend und die Gesellschaft zu schützen“, sagte die Sozialdemokratin.

In Schweden hat sich die Praxis eingebürgert, dass nicht wie in den meisten Teilen Europas der Vertrieb von einer Top-Down-Organisation unter der Führung älterer Männer gesteuert wird, sondern 16- und 17-Jährige ein halbes Kilogramm Kokain als Leihgabe erwerben und jüngere Kinder es verkaufen lassen. Evin Cetin hat 22-Jährige getroffen, die seit zehn Jahren im Drogenhandel tätig sind. „Sie sprechen über sich selbst, als wären sie ältere Männer. Ich konnte 18-Jährige treffen, die 40 Kinder unter sich hatten, von denen Drogen vertrieben wurden.“

Jugendliche: Hauptfiguren der Bandenkriminalität

Beobachter in Schweden sind der Auffassung, eine der Ursachen liege in einem Rechtssystem, das Minderjährige für schwere Straftaten weniger hart bestraft. Evin Cetin hingegen meint, die Schuld liege bei den schwedischen Regierungen und der Polizei, die bereits 2010 eine Warnung der Jugendkriminalitätsexpertin und heutigen Polizeikommissarin Carin Götblad erhalten, jedoch nicht beachtet hätten. Sie lautete: Mindestens 5.000 Kinder und Jugendliche sind auf dem Weg in die schwere Kriminalität.

Diejenigen, die damals 12, 13 und 14 Jahre alt waren, seien heute die Hauptfiguren der Bandenkriminalität, so Evin Cetin. Jedes Mal, wenn ein Kind oder ein Jugendlicher durch den Tod oder eine Gefängnisstrafe ausfiel, sei jemand anderes rekrutiert worden. „Und das ist das große Problem. Man kann so viele wie möglich einsperren, aber es werden trotzdem neue Kinder hinzukommen.“

Sie haben keine Träume mehr

In der Tat liefert die wachsende soziale und wirtschaftliche Ungleichheit eine entscheidende Motivation für Kinder, mit dem Verkauf von Drogen zu beginnen. Das gilt besonders für Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit, in denen Jungen in der Schule scheitern. Wenn ich mit jungen Leuten spreche, fällt mir auf, dass sie kein Selbstvertrauen haben, schon gar keine Träume“, sagte Cetin.

Polizeikommissarin Carin Götblad, die während ihrer bisherigen Laufbahn fast nur mit Jugendkriminalität zu tun hatte, weist darauf hin, dass das Alter junger Menschen sinkt, die Waffen tragen und abfeuern. Es gebe eine Gruppe, die begonnen habe, sich auf eine schwere Kriminalität einzulassen, hauptsächlich treffe das auf Jugendliche mit Migrationshintergrund zu, die in überfüllten Wohnungen leben würden. Sie streiten um Betäubungsmittel, weil es viel Geld wert ist“, sagte Götblad. „Es gibt eine Menge Kokain aus Südamerika, das direkt nach Schweden kommt und dann in Westeuropa verkauft wird.“

In einem im September veröffentlichten Regierungsbericht, zu dem Götblad als Expertin beitrug, wurde vorgeschlagen, Kinder im Alter von 15 bis 17 Jahren, die schwerste Verbrechen begangen haben, in Haftanstalten einzuweisen. Normalerweise können Minderjährige ab 15 in Heime für jugendliche Straftäter geschickt werden, nicht jedoch in Gefängnisse. Götblad vertritt die Meinung „Es muss mehr Korrekturinstrumente für die jetzige Entwicklung geben, weil wir heute eine andere Gesellschaft haben. Die Gesellschaft, für die unsere Gesetze geschrieben und Behörden geschaffen wurden, existiert nicht mehr.“

Miranda Bryant ist die Nordeuropa-Korrespondentin des Guardian.

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Miranda Bryant | The Guardian

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