„Viele fallen in ein Loch“

Arbeitsmarktintegration Einige Männer mit konservativen Geschlechterrollenbildern tun sich schwer, einen Umgang mit ihrer prekären Lebenssituation als Geflüchteter in Deutschland zu finden

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Foto: Sean Gallup/Getty Images

Einige Männer mit konservativen Geschlechterrollenbildern tun sich schwer mit ihrer Situation als Flüchtling in Deutschland. Aufgrund ihrer prekären alltäglichen Lebenssituation und ihrer eingeschränkten Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind sie nicht in der Lage, ihre eigenen Ansprüche und die ihres Umfelds zu erfüllen, da sie keine Rolle als Familienernährer einnehmen können. „Junge Männer, die teilweise verheiratet sind, die als Familienernährer nach Deutschland geschickt worden sind, stehen häufig unter einem hohen Erwartungsdruck, sich selbst und auch die Familie auch im Herkunftsland mit zu versorgen“, erklärt die Mitarbeiterin einer Beratungsstelle in Hamburg.[1] Sie litten darunter, „das oft gar nicht bieten und leisten zu können, aber das der Familie nicht erklären zu können. Der innere Spagat für sie ist, selbst auch das Bedürfnis zu haben, der Mann zu sein, der eine Familie mit ernährt, der die Rolle des Vaters zumindest für die Versorgung ausfüllt, etwa, weil der verstorben ist. Gleichzeitig aber merken sie, dass sie diese Rolle gar nicht erfüllen können, weil die Bedingungen hier für sie so schlecht sind, dass das gar nicht möglich ist. Das ist etwas, was viele umtreibt.“ „Der Mann ist der Ernährer und die Frau bleibt zu Hause bei den Kindern“, stellt der Mitarbeiter eines Jobcenters in Bayern fest, sei als Familienmodell selbst für diejenigen, die in Deutschland aufgewachsen sind und nicht mit den Problemlagen einer Flucht zu kämpfen haben (z.B. eingeschränkter Arbeitsmarktzugang, sprachliche Schwierigkeiten, Anerkennung von Qualifikationen), „fast nicht finanzierbar.“

Männer, stellt die Mitarbeiterin einer Beratungsstelle in Hessen fest, machten in der Tendenz durch die Entwertung ihrer vorherigen Qualifikationen und Phasen der Arbeitslosigkeit im Zuge der Flucht stärker als Frauen „Identitätskrisen durch. Weil ja alles weg ist, wodurch ich mich definiert habe. Da haben die Frauen den Vorteil, dass sie sich weiter über die Familie definieren können. Bei den Männern habe ich öfter den Eindruck, dass viele in ein Loch fallen. Die sind dann nicht mehr der Herr Generaldirektor und die sind nicht mehr der super KfZ-Mechaniker. Das haben sie alles verloren. Es gibt keine Werkstatt. Es gibt keinen Arbeitsalltag.“ Die Mitarbeiterin einer Agentur für Arbeit in Hessen erzählt von einem Beispiel aus ihrer Praxis: „Er ist Physiotherapeut, hat auch vom Sprachniveau alles erfüllt, dann war das ein sehr großer Kampf, bis er die erforderlichen Unterlagen übersetzt hatte. Er musste noch Sachen aus Syrien anfordern, dann dauert das ja alles Ewigkeiten. Das Ergebnis war, dass sein Berufsabschluss als Physiotherapeut hier nicht anerkannt wird. Er war sehr niedergeschlagen. Weil das ist sein Beruf, er ist fünfundvierzig oder so und hat in dem Beruf fünfundzwanzig Jahre und auch total gerne gearbeitet. Er hat jetzt definitiv keine Aussicht mehr, in dem Bereich irgendwie Arbeit zu finden, außer er investiert jetzt noch einmal drei Jahre für eine Ausbildung. Der war wirklich sehr, sehr niedergeschlagen.“ Ältere Männer sind besonders stark davon betroffen, dass ihre Qualifikationen im Zuge der Flucht entwertet werden. Ihnen fällt es schwer, sich auf dem Arbeitsmarkt neu zu orientieren, auch weil ihre Bildungs- und Qualifikationszeiten bereits länger zurückliegen.

Eine Folge des eigenen und familiären Erwartungsdrucks sei bei einigen jungen Männern, dass voreilig geringqualifizierte „Jobs angenommen werden, die erst mal Geld bringen, aber langfristig kaum zum Überleben reicht“, berichtet der Mitarbeiter einer Berufsschule in Niedersachsen. Gleichzeitig sei die „Frustrationstoleranz bei Männern geringer“. Im beruflichen Alltag in Deutschland hätten junge Männer teilweise mehr Schwierigkeiten, unsichtbare Grenzen etwa im Umgang mit Vorgesetzten zu erkennen und zu respektieren. Es sei im Beruf üblich, dass wir „mit unseren Vorgesetzten über ganz normale Dinge reden, so dass man fast meinen könnte, man rede mit einem sehr guten Freund“, meint die Mitarbeiterin einer Industrie- und Handelskammer in Baden-Württemberg. „Die jungen Männer denken dann: ‚Wir sind jetzt auf der gleichen Ebene‘. Sie meinen, im Arbeitskontext dann auch dem Chef sagen zu können, wie es in Zukunft weitergeht. Frauen haben das Problem nicht. Die erkennen eher diese Hierarchien.“ In der Folge komme es zu Frustrationserfahrungen: „Wenn der Chef mal, egal aus welchem Grund – berechtigt oder unberechtigt – ‚Nein‘ gesagt hat, ist die Motivation weg. Dann sind sie beleidigt, meinen: ‚Das geht hier in dem Betrieb für mich nicht.‘ Sind in ihrer Ehre gekränkt. Das ist ein Prozess. Es braucht seine Zeit und bedarf von beiden Seiten viel Geduld.“ Männlichkeit ist jedoch nur ein möglicher Faktor für Probleme im Betrieb. Um Abbrüche von Arbeits- oder Ausbildungsverhältnissen zu verstehen, ist es unter anderem notwendig, auch rassistische Diskriminierung in Betrieben, prekäre und ausbeuterische Beschäftigungsbedingungen oder die Folgeerscheinungen von Traumata und psychischen Belastungen einzubeziehen.

Eine mögliche Konsequenz von Frustrations- und Dequalifizierungserfahrungen auf dem Arbeitsmarkt seien bei einigen jungen Männern „Verhaltensauffälligkeiten bis hin zu Gewaltausbrüchen oder Verweigerung“, so der Mitarbeiter eines Projektträgers in Hessen. Das Scheitern von Männern, die Erwartungen im Rahmen konservativer Geschlechterrollenbilder zu erfüllen, kann dadurch auch innerhalb von Familien krisenauslösend oder verstärkend wirken. „Wir haben hier eine Familie“, erzählt ein Ehrenamtlicher aus Sachsen, „in der der Mann seiner Frau hoffnungslos unterlegen ist. In allem. Er hat Schwierigkeiten, die Sprache zu lernen. Er ist auch ein bisschen eine Schlafmütze, muss man sagen. Er ist in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass es reicht, dass du ein Mann bist. Da brauchst du dich nicht anzustrengen. Und jetzt kriegt er plötzlich mit, seine Frau hat ein Praktikum gemacht als Altenpflegerin. Sie macht eine Berufsausbildung. Hat total schnell Deutsch gelernt. Und das sind echt Konflikte. Ich kenne das aus meiner Patenfamilie auch. Da ist der Mann genau deshalb wegen Gewalttätigkeit entfernt worden aus der Familie.“[2]

Aggression komme jedoch „glücklicherweise ganz, ganz selten vor. Eher ein Sich-Zurückziehen“, so ein Mitarbeiter einer Berufsschule in Hamburg. Man dürfe entsprechende Fälle „nicht pauschalisieren“, betont auch die Mitarbeiterin eines Hamburger Projektträgers, „weil Geflüchtete natürlich eine sehr heterogene Gruppe sind“. Sie kenne andere Familien, „wo die Männer extrem froh waren, dass der Unterhalt der Familie nicht allein auf ihren Schultern lastet und die Frau sie unterstützt.“ Geflüchtete, so zeigen diese Beispiele, sind auch in Bezug auf ihre Geschlechterrollenbilder keine homogene, sondern eine uneinheitliche und in sich sehr vielfältige Gruppe. Konservative Geschlechterrollenbilder können somit zwar eine mögliche Dimension sein, um beobachtbare alltägliche Konflikte zu verstehen, sie sind jedoch weder bei allen Geflüchteten vorhanden, noch lassen sich Konflikte auf Konsequenzen patriarchaler Männlichkeit reduzieren.

[1] Die Zitate sind Interviews entnommen, die im Rahmen des durch das BMBF geförderten Forschungsprojekts „Willkommenskultur und Demokratie in Deutschland“ (Laufzeit: 10/2017-09/2020) geführt wurden. Sie wurden sprachlich geglättet. Die Zitate basieren auf Erfahrungen der Befragten, spiegeln also eine jeweils spezifische Interpretation vieldeutiger Alltagssituationen wieder. Angesichts der Verbreitung von rassistischen Vorurteilen über ‚muslimische Männer‘ in Deutschland ist es nicht unwahrscheinlich, dass bei der Deutung von Situationen auch stereotype Zuschreibungen eine Rolle gespielt haben. Unter Geflüchteten – so ist demgegenüber empirisch festzustellen – gibt es (wie auch im Rest der Bevölkerung) nicht eine homogene Form der patriarchalen Männlichkeit, sondern vielfältige und in sich widersprüchliche Geschlechterrollenbilder und -praktiken. Die im Blogbeitrag skizzierten Konflikte entstehen, so zeigt unser empirisches Material, in erster Linie nicht aufgrund kultureller Differenzen, sondern durch spezifische sozioökonomische Problemlagen, die sich im Zuge der Flucht und der prekären Lebenssituation in Deutschland ergeben und die (auch) auf eine geschlechtsspezifische Art und Weise verarbeitet werden.

[2] Informationen zu spezifischen gewaltbegünstigenden (Kontext-)Strukturen, denen geflüchtete Frauen ausgesetzt sind, bietet unter anderem die Frauenhauskoordinierung.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Doreen Bormann / Nikolai Huke

Wir forschen im durch das BMBF geförderten Projekt "Willkommenskultur und Demokratie in Deutschland" zur Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten.

Doreen Bormann / Nikolai Huke

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