Gleichzeitigkeit globaler Krisen: Die Zeit, die wir nicht haben

Zukunft Die Multi-Krise dieser Zeit setzt uns ständig unter Druck. Aber statt Hektik brauchen wir Muße, um all die globalen Probleme zu lösen
Ausgabe 17/2024
Gleichzeitigkeit globaler Krisen: Die Zeit, die wir nicht haben

Illustration: der Freitag

Der Bedrohungen und Krisen sind viele, sie überbieten und überlagern sich. Seit 1946 gab es nicht mehr so viele Kriege und zwischenstaatliche Konflikte wie 2023, inzwischen gibt es weniger Demokratien als Diktaturen. Und 2024 beginnt schon wieder mit Temperaturen, die über denen des bisher heißesten Jahres 2023 liegen. Der Befund ist klar: Der Menschheit geht die Zeit aus.

Zunehmend ist Katastrophenbewältigung Thema: Seit Februar 2023 ist mit Cell Broadcast eine digitale Warntechnik in Deutschland installiert, deren regelmäßige Tests daran erinnern, dass die Krise „stationär“ geworden ist (Joseph Vogl, der Freitag 24/2023). Zivilschutzübungen sollen in den Schulalltag einziehen, die Listen zur empfohlenen Bevorratung hängen in vielen Haushalten.

Die Zeit scheint knapp im Angesicht der Krisen, die Hoffnung auf Zukunft scheint zu schwinden. Die Menschen wissen das. Befragt man sie nach ihren Sorgen, nach den dringlichsten gesellschaftlichen Themen, rangieren all die Krisen und deren Bewältigung weit oben. Mehr noch: Jugendliche wie Erwachsene äußern ihre Bereitschaft, sich gegen die weitere Verschärfung der Krisen auch politisch zu engagieren. Doch immer wieder bleibt die Frage: Wie können die notwendigen Veränderungen in der noch verbleibenden Zeit gelingen, wo doch die planetarischen Belastbarkeitsgrenzen mehrheitlich schon überschritten sind?

Es wirkt, als treibe uns die Multi-Krise in eine weitere Beschleunigungsspirale. In einen Wettbewerb der Bewältigung: Energie- und Verkehrswende, Aufrüstung und Grenzbefestigungen, Bollwerk gegen rechts, Aufbau von Resilienz bei Jung und Alt – all das soll zugleich geschehen. Doch ganz abgesehen davon, dass manche Krisenmaßnahmen eher antidemokratische Tendenzen unterstützen: Ein Wettbewerb um Krisenbewältigung zwischen Nationen, Unternehmen oder Weltregionen ist nicht zu gewinnen. Dazu kommt noch, dass eine weitere Beschleunigung unseres Alltags – nun als Kampf gegen vielfältige Krisen – alles andere als eine attraktive Option ist. Doch genau das braucht es ja: eine alternative Perspektive, die attraktiv ist, weil sie uns Hoffnung zurückbringt.

Mehr Zeit für Demokratie

Nötig ist deshalb eine paradoxe Umkehr der Perspektive: Wir sollten uns als Menschheit Zeit nehmen im Angesicht all dieser Krisenkonstellationen. Denn Demokratie, das gleichberechtigte, freie Ringen aller um die Gestaltung sozialer Zusammenhänge, braucht ja vor allem: Zeit. Ebenso die Entwicklung des Gemeinwesens. Die Sorge füreinander ist ebenso wie der Kampf für alternative Vergesellschaftungsweisen nur möglich, wenn wir uns Zeit dafür nehmen.

Was also, wenn wir uns nicht weiter in Anti-Krisen-Hektik verlören? Sondern uns endlich das Aufeinander-angewiesen-Sein zwischen uns Menschen – und zwischen Mensch und Natur – wirksam vergegenwärtigten? Könnte es sein, dass wir dann Ansatzpunkte für eine konkrete Transformation der gegenwärtigen Krisenkonstellation finden, benennen und nutzen könnten? Schließlich würden sich neue Erfahrungsräume eröffnen: In gesellschaftlichen „Reallaboren“ (Niko Paech) würde erfahrbar, dass wir mit viel weniger Erwerbsarbeit auskommen und Konsum oft nur der Ablenkung dient. Auf Basis einer echten Grundsicherung gäbe es die Zeit dafür, sich dem Gemeinwesen und den Beziehungen zu anderen Menschen und zur Natur zu widmen. In der Begegnung und in der Auseinandersetzung mit den Anforderungen des Alltags würde die Sorge endlich ihre Zeit bekommen.

Deutlich würde so aber auch, warum sich manche aktuell noch in einer Position befinden, in der sie ihre Zeit frei einteilen können, andere sich dagegen in ökonomische Zeitregimes gepresst sehen und wieder andere ihre Zeit eintauschen müssen, um ihr Überleben zu sichern.

Eine paradoxe Umkehrung der Perspektive würde uns nicht nur die notwendige Zeit geben für Demokratie und Sorge. Sie würde ganz nebenbei den Weg in eine neue, tatsächlich nachhaltige Gesellschaftsordnung vorbereiten, in der nicht mehr Eigentum und Profit, sondern ein Recht auf Zukunft den Maßstab darstellten.

Fabian Kessl arbeitet als Erziehungswissenschaftler an der Universität Wuppertal und ist Kuratoriumssprecher des Instituts für solidarische Moderne (ISM)

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