Ist Mehrsprachigkeit im Kommen?

Integration Welchen Wert hat eine mehrsprachige Erziehung? Diese Frage gewinnt für Kinder Geflüchteter und Zugewanderter besondere Brisanz. Gezielte Sprachförderung ist angesagt!

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Ist Mehrsprachigkeit im Kommen?

Foto: PHILIPPE HUGUEN/AFP/Getty Images

Zweisprachig aufwachsen - das ist heutzutage ein erstrebenswertes Ziel bildungsbewusster Eltern für ihre Kinder. Am besten sollten sie gleich eine zweisprachige Kita und später ein Gymnasium mit mehreren Sprachen besuchen. Bei alledem wird natürlich die perfekte deutsche Muttersprache als selbstverständlich vorausgesetzt. Doch wie steht es mit Kindern, die aus anderen Ländern geflohen oder zugewandert sind? Kommt es nur darauf an, deren Mangel an Deutsch recht bald zu beheben? Haben sie sprachlich nicht mehr zu bieten?

Migrantenkinder kommen mit vielfältigen Herkunftssprachen zu uns - je nach Alter und Bildung auf ganz unterschiedlichem Niveau. Viele von ihnen sprechen selbst zwei oder mehr Sprachen. Bekannt ist das u.a. von der Bevölkerung auf dem Balkan. Im Kosovo etwa unterhielten sich Romakinder zu Hause auf Romanes, mit den Nachbarskindern auf Serbisch und Türkisch, und in der Schule benutzten sie Albanisch oder Russisch (1). Aber auch die Lebenswege der Migrantenkinder hinterlassen sprachliche Spuren, wie z.B. bei Jamil (16 Jahre) aus dem kurdischen Teil Syriens: Er kannte das lateinische Alphabet schon gut, weil er Kurdisch spricht, und auch vom Englischunterricht in Syrien; er spricht aber auch Arabisch, und Türkisch hat er bei seinem einjährigen Aufenthalt in der Türkei gelernt (2).

Es gibt reichlich Forschung und Disput über Zwei- oder Mehrsprachigkeit. Lange Zeit wurde sie als mögliches Hemmnis für die sprachliche Entwicklung angesehen. Besonders konnte sich diese Auffassung in Deutschland halten, da hier die eigene 'reine' Sprache als nationales Kulturgut gepflegt wird. Inzwischen aber findet ein Umdenken statt: Viele Studien haben belegt, dass der Mensch von sich aus kein einsprachiges, sondern ein mehrsprachiges Wesen ist, und dass Mehrsprachigkeit für die geistige Entwicklung vorteilhaft ist. Auch in der Öffentlichkeit wird sie zunehmend als Chance begriffen (3).

Im Lichte dieser Erkenntnisse haben führende Pädagogen wie Prof. Ingrid Gogolin angeregt, Migrantenkinder hinsichtlich ihrer Mehrsprachigkeit bewusst zu fördern. Viele gute Gründe lassen sich dafür anführen:

A. Muttersprachen sind identitätsstiftend. Sie übermitteln Kultur, Mimik, Gestik und Gefühle. Wenn Kinder spüren, dass ihre Sprache und Kultur wenig wertgeschätzt wird, fühlen sie sich insgesamt abgewertet. Umgekehrt gewinnen sie an Selbstvertrauen, wenn sie ihre Sprache und ihr Wissen einbringen können. In Kitas z.B. bietet es sich an, Migrantenkinder zu fragen, wie sie bestimmte Dinge zu Hause nennen. Das regt auch die anderen Kinder an, über unterschiedliche Wörter und Sprachen nachzudenken (vgl. 4).

B. Erstsprachen bilden die Basis für den Erwerb weiterer Sprachen wie Deutsch. Um jedoch eine sinnvolle Mehrsprachigkeit zu erreichen, müssen Kinder auch in der Erstsprache lesen und schreiben können (5). Je höher das Niveau in der Erstsprache, umso besser erlernen Kinder weitere Sprachen. Erstrebenswert ist eine 'durchgängige' Sprachbildung, die sich über die Bildungsphasen eines Kindes und über beteiligte Fächer hinweg erstreckt (6).

C. Kinder, die im Alltag mit mehreren Sprachen jonglieren müssen, entwickeln nicht nur kommunikative Vorteile; sie lernen auch, sich zu konzentrieren, Konflikte zu lösen und sich besser in andere hineinzuversetzen. All das fördert ihre geistige Entwicklung; ihr Gehirn wird flexibler (7).

D.Herkunftssprachen sind als besondere Kompetenz für das spätere Arbeitsleben wertvoll (8). Dazu aber ist eine gezielte Sprachförderung nötig, denn berufliche Qualifikation oder Studium erfordern ein bildungssprachliches Niveau.

E. Die eigene Sprache zu erhalten ist wichtig, um soziale Beziehungen mit den Familien vor Ort und im Herkunftsland zu pflegen (vgl. 5). Über die Sprache werden auch Werte, Traditionen und Verhaltensregeln vermittelt, so dass zweisprachig aufwachsende Kinder lernen, mit verschiedenen Kulturen umzugehen. Als Zweisprachige werden Migrantenkinder später Brücken bauen können (9).

Mit viel Engagement versuchen etliche Lehrkräfte und Erzieherinnen, die Herkunftssprachen von Kindern und Jugendlichen in den Lernprozess einzubeziehen. Auch einige Modellversuche wurden aufgelegt. Woran es jedoch noch hapert sind verbindliche politische Konzepte und Regelungen. In dem bundesweiten Programm "Integration durch Bildung" (2016) wird der Begriff 'mehrsprachig' nicht einmal erwähnt (vgl. 6).

Allerdings gibt es auf Länderebene hilfreiche Vorstöße. Das sächsische Integrationskonzept (v. 2000) z.B. erkennt die Zwei- und Mehrsprachigkeit als Bildungsresource an und sieht einen entsprechenden Unterricht in 15 Sprachen vor (10). In Hamburg gibt es ebenfalls gut durchdachte Rahmenpläne für den herkunftssprachlichen Unterricht (11). In Düsseldorf wird dieser Unterricht, mit etwa drei zusätzlichen Wochenstunden, für rund 20% der Schüler in 15 Sprachen angeboten (12).

Schweden hat bereits während des 'Gastarbeiterbooms' 1975 einen regulären muttersprachlichen Unterricht eingeführt. Er soll Schüler in ihrer persönlichen Entwicklung fördern und ihr Selbstbewusstsein stärken. Meist bieten ihn Schulen zusätzlich an, einige haben auch eigene Klassen eingerichtet. Insgesamt wird er in 90 Herkunftssprachen erteilt. Allerdings ist die praktische Umsetzung schwierig: Muttersprachlehrkräfte sind oft an mehreren Schulen tätig, selten fest angestellt und nur teilweise pädagogisch ausgebildet. Zudem hat der erneute Anstieg zugewanderter Schüler mancherorts zu Konflikten geführt (13). Also auch hier gibt es Kritikpunkte - dennoch könnten die schwedischen Erfahrungen für unser Land anregend sein.

Quellen:

  1. Adnan Softic: Mehr Balkan wagen. Die Zeit v. 15.10.2015
  2. Martin Klesmann: Zuerst wird Deutsch gepaukt. Berliner Zeitung v. 16.10.2016 [Link]
  3. #Eiken Bruhn: Jede Sprache ist es wert, gesprochen zu werden. Erziehung und Wissenschaft 06/2016
    #Martin Spiewak: Ein Kind, drei Sprachen. Die Zeit v. 19.11.2015
    #Mediendienst Integration: Mehrsprachigkeit und Deutschkenntnisse [Link]
    #Peter Mayr/ Brigitta Busch: Türkisch wurde zu lange schief angesehen. Der Standard v. 6.7.2014 [Link]
    #Astrid Viciano: Polyglott plaudern. Süddeutsche Zeitung v. 27.5.2016
  4. Was bildet ihr uns ein? Bildungsblog der jungen Generation (8.6.2015) [Link]
  5. Flüchtlinge willkommen heißen - Deutsch lernen und Herkunftssprachen erhalten (3.10.2015) [Link]
  6. Jeannette Goddar: Aufgabe in allen Fächern. Erziehung und Wissenschaft 01/2016
  7. #Fanny Jimenez: Die Schlausprecher. Die Welt v. 10.4.2016
    #Gudrun Janicke: Eine geistige Übung. Potsdamer Neueste Nachrichten v. 10.8.2015
  8. BAMF: Mehrsprachigkeit von Kindern [Link]
  9. #Goethe-Institut: Mehrsprachige Familien - Vermittler zwischen den Kulturen [Link]
    #Gesine Schwan: Das Gemeinwohl muss öffentlich erstritten werden. Berliner Zeitung v. 9.10.2015
  10. Sachsen: Schule und Ausbildung [Link]
  11. Jürgen Amendt: Berliner Nischen - Hamburger Mühen. Erziehung und Wissenschaft 12/2013
  12. Sven-André Dreyer: Schüler lernen die Sprache der Eltern. 30.5.2016 [Link]
  13. #Anna Lehmann: Allen ihre Sprache. Erziehung und Wissenschaft 12/2013
    #Immigration puts Swedish schools to the test. Straitstimes 27.4.2016 [Link]

Hinweis: Eine ausführliche Fassung dieses Beitrags unter dem Titel "Mehrsprachig im Kommen" ist im Blog Multisprech erschienen [Link].

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Sabine Manning

Bin sprachkritisch, denke alternativ und europäisch, blogge auf anglilupe.org, multisprech.org und sprachkritik.org

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