Seit Kanzler Olaf Scholz wegen des Ukraine-Krieges die sicherheitspolitische Zeitenwende ausgerufen hat, ist manches ins Rutschen gekommen, nicht nur finanziell. So wurde der von 32 (2014) auf über 50 Milliarden Euro (2022) gestiegene Verteidigungshaushalt nochmals um ein 100 Milliarden Euro umfassendes „Sondervermögen Bundeswehr“ aufgestockt. Das zuvor umstrittene Ziel, mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für den Rüstungsetat auszugeben, ist nun in den verteidigungspolitischen Richtlinien verankert. Und während die Koalition dazu auch das Sondervermögen nutzen will, kündigt Oppositionsführer Friedrich Merz an, für den Fall einer Regierungsübernahme den Wehretat bereits 2026 auf mindestens 80 Milliarden anheben zu
ündigt Oppositionsführer Friedrich Merz an, für den Fall einer Regierungsübernahme den Wehretat bereits 2026 auf mindestens 80 Milliarden anheben zu wollen, und zwar zusätzlich zum Sondervermögen.Deutschland übernimmt zudem einen immer größeren Anteil an der militärischen und finanziellen Ukraine-Hilfe. Mittlerweile ergibt das Rang zwei hinter den USA. Auch sei daran erinnert, dass ab 2025 erstmals dauerhaft eine deutsche Kampfbrigade in Litauen stationiert wird. Das Ganze flankiert eine beispiellose rhetorische Aufrüstung. War früher von Verteidigung und Frieden die Rede, so sind die bevorzugten Begriffe mittlerweile Kriegsfähigkeit und Sieg.Atomare AbschreckungBei so viel Wende kann es nicht verwundern, dass auch Tabus fallen. So geschehen in einem Interview von Zeit Online mit Ex-Außenminister Joschka Fischer. Dessen Feststellung, Europa müsse angesichts des russischen Imperialismus aufrüsten, bewegt sich noch im Mainstream. Seine Antwort auf die Frage, ob sich Deutschland auch eigene Atomwaffen anschaffen sollte, eher nicht. Statt sie klar zu verneinen, bewertet er sie abwägend als die „in der Tat … schwierigste Frage“, um sie dann zu verneinen und für eine atomare Abschreckung der EU zu plädieren.Natürlich hat er recht, dass Wladimir Putin mit nuklearer Erpressung arbeitet und Donald Trump wiedergewählt werden könnte. Aber ist eine nuklear gerüstete Europäische Union wirklich eine realistische Alternative? Bräuchte es dafür nicht genau den vollendeten europäischen Bundesstaat, den Fischer vor 23 Jahren in seiner „Berliner Rede“ vorschlug, der aber heute in noch weiterer Ferne liegt als im Jahr 2000?Wie im Märchen von Des Kaisers neuen Kleidern ist die EU militärisch weitgehend nackt. Sie verfolgt zwar seit Jahren eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik und verfügt außerdem über eine Beistandsklausel. Doch eigentlicher Sicherheitsgarant ist die Bündnisvormacht USA. Soll künftig etwa der 27 Mitglieder umfassende Europäische Rat über den Einsatz europäischer Nuklearwaffen einstimmig entscheiden? Eine völlig absurde Vorstellung. Und wo sollen diese Waffen eigentlich herkommen?Fischer will die EU-Abschreckung nicht auf die Atomwaffen-Arsenale Frankreichs und Großbritanniens abstützen. Das wäre „zu einfach und zu kurz“ gedacht. Das stimmt wohl, denn die Briten sind aus der EU ausgetreten und haben ihre Kernwaffen, seit das Depot existiert, eng an die USA gekoppelt. Frankreich ventiliert zwar hin und wieder die Möglichkeit einer „nuklearen Konzertierung“ zugunsten der EU, denkt freilich nicht daran, auf seine nationale Entscheidungsgewalt zu verzichten – nicht zuletzt, um gegebenenfalls einem wiedererstarkenden deutschen Nationalismus gewachsen zu sein.Atomare Bewaffnung DeutschlandsWäre noch die Idee einer multilateralen maritimen Nuklearstreitmacht, wie sie die USA 1960 vorschlugen, um – so damals die New York Times – „Westdeutschlands atomare Ambitionen zu befriedigen, ohne Bonn den Aufbau einer eigenen Abschreckungs-Streitmacht zu erlauben“. Kämen dafür diesmal französischen Kernwaffen in Betracht? Wenn, dann bliebe die Verfügungsmacht bei Paris – Schiffsbesatzungen, Finanzierung und Planung hingegen wären multilateral. Doch war ein solches Projekt schon vor gut sechs Jahrzehnten für Frankreich und andere europäische Staaten untragbar. Und ist es auch heute noch.Warum macht Fischer einen Vorschlag, der so unrealistisch ist? Vielleicht hat er nur schwadroniert und gefällt sich in europäischen Träumereien. Gleichwohl rüttelt er an einem Tabu. Wenn in der von ihm konstatierten geopolitischen Krise auf die amerikanische Abschreckung kein Verlass mehr ist und die europäische Variante nicht geht, bliebe dieser Logik zufolge eigentlich nur die nationale Lösung. Diese ist aber – glücklicherweise – vor allem durch den 2+4-Vertrag und den Nichtweiterverbreitungsvertrag verbaut.Bislang fordern zwar nur die Jungen Alternativen, die Jugendorganisation der AFD, und vereinzelt auch einige Vertreter dieser Partei sowie Journalisten und Wissenschaftler die atomare Bewaffnung Deutschlands. Aber die Zeiten ändern sich gerade so gravierend, dass Tabubrüche salonfähig werden. Auch dank eines ehemaligen grünen Außenministers.